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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Trotz der literaturgeschichtlichen Bedeutung dieser neuartigen Elemente war die Lektüre der endlosen Beschreibungen gegenseitigen Abschlachtens für mich eine Geduldsprobe. Ich könnte mir vorstellen, daß es mehr Vergnügen bereitet, die Ilias zu übersetzen, als sie zu lesen! In den 24 Büchern wird vor allem von ewig sich wiederholende Kampfhandlungen erzählt, wobei die berühmten Helden beider Seiten, wie die Stars im Film, vom Sterben meist ausgenommen sind (selbstverständlich sind sie als Fürsten ihrer Stämme auch die stärksten und mutigsten Kämpfer mit den wertvollsten Rüstungen und Streitwagen). Zur Not lenkt irgendein Gott im letzten Moment einen Pfeil um, oder er hebt seinen Schützling einfach vom Kampfplatz weg: "Da riß ihn Aphrodite heraus, ganz leicht, wie es ein Gott tut, hüllte ihn in dichten Nebel und setzte ihn im Schlafzimmer nieder, das von Wohlgerüchen duftete". Die Feinde sterben dagegen wie die Fliegen. (Mir war zu spät eingefallen, die Toten zu zählen, Steinmann, der das offenbar getan hat, spricht hier von 250). Die meisten Kämpfer werden nur einmal namentlich erwähnt, anläßlich ihres Todes. Im 6.Buch tötet z. B. Diomedes den Teuthaniden Axylos und seinen Knappen Kalesios:
"Euryalos entwaffnete Dresos und Opheltios, dann aber schritt er Aisepos und Pedasos nach, die einst die Quellnymphe Abarbareë dem edlen Bukolion gebar. Bukolion war der älteste Sohn des stolzen Laomedon [..] Dann tötete der streitbare Polypoites den Astyalos, Odysseus entwaffnete den Pidytes aus Perkote mit der ehernen Lanze und Teukros den göttlichen Aretaon. Antilochos, der Sohn des Nestor, erschlug mit dem glänzenden Speer den Ableros, und Agamemnon, der Herrscher des Heeres, den Elatos. Der bewohnte die steile Stadt Pedasos am Ufer des starkströmenden Satnioeis. Der heldenhafte Leïtos ereilte den Phylakos, als er fliehen wollte und Eurypylos entwaffnete den Melanthios."
Das klingt so langatmig exhaustiv, wie wenn ein Fünfjähriger eine Folge Tom & Jerry nacherzählt. Und was es noch komplizierter macht, zu folgen, daß die Helden allerhand Beinamen tragen: der "Pelide", der "Atride", die "Argeier", die "Achaier". Man muß erst einmal nachdenken, wer gemeint ist, wenn der "Pelide" zum "Atriden" spricht: "Weinschlauch du, mit dem Blick einer Hündin und dem Herzen einer Hirschkuh!" (Bei "der Priamide" lese ich zudem auch immer "der Pyramide"). Unnötig zu erwähnen, daß auch viele Pferdenamen nicht unerwähnt bleiben. Die verwickelten Verwandtschaftsverhältnisse sind ein zusätzliches Hindernis:
"Jetzt aber ging Iris als Botin zur weißarmigen Helena, in der Gestalt ihrer Schwägerin, der Gattin des Anteroniden, die Helikaon, der mächtige Sohn Antenors zur Frau hatte, Laodike, die Schönste von den Töchtern des Priamos."
Den Höhepunkt der Namensexzesse bildet vielleicht diese Stelle:
"Da versammelten sich rund um sie alle Göttinnen, die es in der Tiefe des Meeres gab, die Töchter des Nereus. Da war Glauke, Thaleia und Kymodoke, Nesaie, Speiro, Thoë und die kuhäugige Halie, Kymothoë und Aktaie und Limnoreia und Melite und Iaira und Amphitoë und Agaue, Doto, Proto, Pherusa, Dynamene, Dexamene und Amphinome und Kallianeira, Doris und Panope und die hochberühmte Galateia, Nemertes und Apseudes und Kallianassa. Da war Klymene, Ianeira und Ianassa, Maira und Oreithyia und die schöngezöpfte Amatheia und die anderen Töchter des Nereus, die es in der Tiefe des Meeres gab."
(Hoffentlich hat er keine vergessen!)
Es hat, wie gesagt, etwas Fades, wie überlegen Odysseus, Diomedes, Patroklos, etc. allen anderen Kämpfern sind, und oft nur, weil sie über die bessere Rüstung, die edleren Pferde oder den motivierteren Schutzgott verfügen. Während die Helden dutzende Gegner niedermetzeln, ist ihr eigener Tod so ein herausragendes Ereignis, daß damit sparsam umgegangen werden muß. Noch im Tod sind sie privilegiert. Die meisten gefallenen Kämpfer werden auf dem Schlachtfeld von den Hunden gefressen, aber um die Leichen der Prominenten wird ein ungeheures Gewese gemacht. Für Patroklos' Scheiterhaufen werden von Achilleus gleich ein Dutzend Sklaven getötet: "Dann will ich zwölf stattlichen Kindern der Troer vor deinem Scheiterhaufen den Hals abschneiden aus Zorn, daß du erschlagen bist."
Angesichts der vielen Namen und Wiederholungen kann man sich gar nicht dagegen wehren, die Gewaltszenen als Würze zu empfinden ("... und verwundete ihn mit dem Speer am Nabel, und alle Gedärme quollen heraus, und Finsternis umhüllte seine Augen.") Die Beschreibungen der tödlichen Verletzungen sind anatomisch erstaunlich genau. Man kann sich leicht vorstellen, daß der Krieg den Ärzten Studienmaterial verschafft hat:
"Dem traf, als er ihm zu nahe kam, der speerberühmte Phylide mit dem scharfen Speer ins Hinterhauptbein des Kopfes. Quer durch die Zähne hindurch schnitt das Erz die Zunge ab. Er stürzte in den Staub und hielt das kalte Erz in den Zähnen."
Nach jedem Krieg müssen damals zahlreiche Invaliden im Elend gelebt haben:
"Aber der Tydide ergriff mit der Hand einen Feldstein – eine gewaltige Leistung! -, den könnten zwei Männer von der Art der heutigen Menschen nicht heben, er aber schwang ihn leicht und allein. Mit dem traf er den Aineias dort an der Hüfte, wo sich der Schenkel in der Hüfte dreht, sie nennen es Gelenkkapsel. Er zerschmetterte ihm die Gelenkkapsel, zerriß außerdem beide Sehnen, und der rauhe Stein stieß die Haut ab."
Da ist es noch besser, es erwischt einen gleich:
"Peisandros traf die Platte des mit dichtem Roßhaar besetzten Helmes, oben, unmittelbar unter dem Helmbusch, aber Menelaos traf ihn, wie er herankam, an der Stirn über der Nasenwurzel. Da krachten die Knochen, beide Augen fielen ihm blutend vor die Füße zu Boden in den Staub, und er krümmte sich, als er stürzte."
Kamen solche Splatterszenen eigentlich in der Ilias-Verfilmung vor?
"Aias traf ihn an der Fuge, die Kopf und Hals miteinander verbindet, in den obersten Wirbel und durchschnitt beide Sehnen. Als er stürzte, fielen Haupt, Mund und Nase weit eher zu Boden als seine Unterschenkel und Knie."
Und so wird ein Speer geborgen, der in einem Gegner feststeckt:
"Da trat ihm Patroklos mit der Ferse auf die Brust und zog seinen Speer aus dem Leib. Außer der Waffe kam auch das Zwerchfell mit, und er zog mit der Lanzenspitze zugleich seine Seele heraus."
Neben diesen Gewaltszenen waren für mich Details interessant, die nebenbei miterzählt wurden (wie auf alten Fotos nicht das Motiv interessant ist, sondern die Dinge, die zufällig mitfotografiert wurden, und die durch ihr Verschwinden im Lauf der Zeit erst "sichtbar" geworden sind.)
Daß vor der Abfahrt die Kielfurchen der Schiffe ausgefegt werden. Daß man "Ankersteine" benutzt. Daß man seinen Speer "im Ansprung" wirft. Wie grob man auch unter Kampfgenossen miteinander umgeht: "Da trat Nestor, der greise Lenker der Rosse, neben Diomedes, weckte ihn mit rüttelndem Fußtritt, ermahnte ihn und warf ihm tadelnde Worte entgegen." (Ich glaube, man sieht diese Art, geweckt zu werden, manchmal im Western.) Daß auch die Götter eine Art Blut haben, denn Diomedes wirft seinen Speer auf Aphrodite und trifft ihre Hand: "Da floß das unsterbliche Blut der Göttin, das Ichor, wie es bekanntlich in den Adern der seligen Götter fließt." Daß sich Homer einmal zu seiner Arbeit äußert: "Inzwischen kämpften andere Männer um andere Tore. Doch es wäre zu schwierig für mich, das alles wie ein Gott zu berichten." (Wobei er sich leider nicht daran hält, weswegen man nebenbei sogar die Besitzergeschichte einer Kappe mitgeteilt bekommt: "Autolykos hatte sie einst aus Eleon bei einem Einbruch ins feste Haus des Ormeniden Amyntor entwendet. Dann gab er sie nach Skandeia an den Kytherier Amphidamas weiter. Amphidamas gab sie dem Molos als Gastgeschenk, aber dieser gab sie seinem Sohn Meriones zum Tragen. Jetzt wurde sie dem Odysseus aufgesetzt, um sein Haupt zu schützen.")
Interessant ist, daß, wie hier beschrieben, tatsächlich die Farben fehlen und höchstens einmal vom "weinfarbenen Meer" oder "schwarzen Blut" die Rede ist. Oder, wie Informationen kommuniziert werden: "So sprach er, und Athene, die eulenäugige Göttin, war einverstanden. Den Beschluß der Götter vernahm Helenos, der liebe Sohn des Priamos, denn eine innere Stimme verriet ihm, was den beratenden Göttern gefiel." Man lernt auch endlich, warum es "Stentorstimme" heißt und wie das Kampfgeschrei der Griechen klang: "Da erhoben sie alle unter Ololo-Geheul ihre Arme zu Athene." Man liest, daß die Gefährten eines Gefallenen sich am Scheiterhaufen die Haare abscheren und den Toten damit zudecken. (Verstörend ist, wie Priamos mit der Trauer um seinen Sohn Hektor umgeht: "Rings am Haupt und am Nacken des Greises klebte viel schmutziger Kot. Als er sich darin wälzte, hatte er ihn mit den eigenen Händen zusammengerafft und sich damit besudelt.") Man stutzt, wenn mehrmals vom schweren Schicksal die Rede ist, ein "verachteter Umsiedler aus der Fremde" zu werden. Man schmunzelt, wenn die Götter sich mit Wolken zudecken, die sie über sich ziehen. Und man erfährt aus dieser Stelle, wenn Hera zu Zeus sagt: "Schwöre mir einen starken Eid, daß ganz gewiß der über all seine Nachbarn als König regieren soll, wer auch immer vom Geschlecht jener Männer, die deinem Blute entstammen am heutigen Tag zwischen die Füße eines Weibes fällt", daß die Griechinnen offenbar im Hocken entbunden haben, also die Schwerkraft nutzten, was die natürliche Haltung ist, und nicht die für die Krankenhausbetten erfundene Rückenlage.
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Ich hatte mir auch schon lange vorgenommen, irgendwann die Ilias zu lesen. Danke, dass du mir diese Erfahrung erspart hast. Anfangs, bei Teil 1, las ich noch gebannt, deine Motivation und deine ersten Eindrücke, aber schon bald bemerkte ich, dass ich keine Lust habe, mich tiefer mit all diesen Schlachten, Kämpfen , Toten und all den vielen und verwirrenden Namen zu beschäftigen.
Allein die Illustrationen scheinen großartig zu sein.