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Die Autobiografie der Kindheit des bekannten Schauspielers Edgar Selge wurde mir empfohlen: ein literarischer Leckerbissen mit viel Humor. Normalerweise reizen mich gängige Schauspielerautobiografien nicht sehr; aber der Tipp war dann doch ein Glanzstück zur deutschen Nachkriegszeit, und ich gebe ihn gern so weiter. Eine Kindheit und Jugend in den 50ern und 60ern in Herford in Westfalen, in einem bürgerlichen Bildungshaushalt, in dem viel Musik gemacht wird. Der Vater ist Gefängnisdirektor einer Jugendhaftanstalt und die Familie wohnt in der Dienstwohnung. Der zwölfjährige Edgar berichtet ziemlich humorvoll vom Alltäglichen. Der Krieg ist gerade beendet, und die Braunen sind offiziell verschwunden – doch sie sind immer noch da, agieren leise. Überall spürt der Junge Risse in dieser geordneten Welt. Die älteren Brüder führen mit den Eltern Streitgespräche und Edgar versteht, dass an Papas Socken eine Nazivergangenheit klebt. Der älteste, Rainer, ist beim Spielen mit einer Handgranate ums Leben gekommen. Die Eltern haben es schwer, mit der neuen Zeit klarzukommen, verheimlichen eine Menge. Die Musik hält die Familie zusammen, das Musizieren, die Konzerte. Hier sind sie sich nah.
«Sie irren umher und suchen mich verzweifelt. Und träumend quält mich der Gedanke, dass sie nicht zurückfinden können, weil sie die Orientierung verloren haben ... Oder sie denken, ich will sie nicht mehr sehen ... Langsam haben sie sich an den Gedanken gewöhnt, dass Kinder irgendwann von ihren Eltern nichts mehr wissen wollen. Das ist wohl der Lauf der Welt, trösten sie sich gegenseitig.»
Die Geschichte wird auf zwei Ebenen berichtet: einmal im Präsens geschrieben vom zwölfjährigen Edgar, ein Lausbub, der sich durchs Leben schummelt, und von der zweiten Stimme, dem dreiundsiebzigjährigen Edgar, zurückblickend und resümierend. Die Reflexionen aus der Distanz des Alters vermischt sich auf wunderbare Art mit der Stimme des naiven Jugendlichen, der sehr genau seine Umwelt beobachtet und frech seine Eindrücke und Gefühle wiedergibt. Edgar ist besessen vom Film und von Büchern, flüchtet sich gern in die fantastische Welt. Spannungen im Familienklima, ein schwelender Antisemitismus der Eltern, ein Beschwören, dass doch nicht alles falsch gewesen war, was man damals gemacht hat ... «Die Juden waren immer schon da. Überall haben sie einem vor der Nase gesessen», so der Vater. Und was hat er im Krieg eigentlich wirklich gemacht? Es gibt ein Kriegstagebuch – in Fragmenten – denn die Mutter hat viele Seiten herausgerissen. Die Kinder würden es nicht verstehen. Der ehemalige Oberstaatsanwalt Dr. Selge fristet heute sein Dasein als Gefängnisdirektor; die Familie vertrieben aus Ostpreußen. «Der Krieg ist verloren, der Nationalstolz im Eimer, die Nachkriegszeit haben sie überstanden, mit Ach und Krach, aber die Kultur ist übrig geblieben.» Entnazifiziert, einen Job erhalten, den er wieder verlor, hierher strafversetzt. Weil er zu milde mit den Gefangenen umgegangen ist, sagt er. Die Mutter, die leidet, weil sie nicht ihren Weg gegangen ist, sondern geheiratet hat, die als Person nicht wahrgenommen wird. Direktor Dr. Selge gibt Konzerte für die Gefangenen in seiner Wohnstube, und während er Beethoven spielt, stellen die Gefangenen fest, dass die Möbel hier allesamt aus ihren Gesellenstücken bestehen. «Genau genommen ist es so, dass die Eingesperrten uns ernähren», berichtet Edgar: die Möbel, die Feldfrüchte, und weil sie dem Vater einen Job geben. Edgar, der immer wieder Prügel kassiert, weil er sich nicht an die Regeln hält, der zum Dieb und Lügner wird, um an Geld für Kinokarten heranzukommen, nachts aus dem Fenster steigt, um die Spätvorstellung zu besuchen, während die Eltern bereits schlafen. Und gern sitzt er im Birnbaum, spielt Fliegerangriff. Als Granaten dient das Obst. Die Mutter, aus einer Offiziersfamilie stammend, behauptet steif und fest, die Wehrmacht sei sauber gewesen, sei ja nicht die SS. Erst spät muss sie feststellen: «Ich kann mein ganzes Leben wegwerfen, waren ihre ersten Worte. Nur Verbrecher um mich herum. Euer Vater. Mein Vater. Unsere Wehrmacht», als sie nach einem Besuch der Wehrmachtausstellung in München fast zusammenbricht.
«Er will nicht als Nazi rüberkommen, aber sein ganzes Denk- und Sprachgebäude ist in dieser Zeit errichtet worden, und so schnell findet er kein anderes.»
Edgar ist 1948 geboren, ein Nachkriegskind, das kein Kriegsleid erlebt hat. Aufbruch in der Nachkriegszeit, alte Zöpfe abschneiden. Das gelingt eben nicht jedem. Und manch einer sitzt wieder fest im Sattel. Man redet eben nicht über die Vergangenheit. Entnazifizierung – wurden die Menschen dadurch besser, hat sich etwas in der Einstellung verändert, oder hält man einfach die Klappe? Die neue Zeit oben draufgesattelt, wabert die alte fleißig darunter. Kinder, die in dieser Zeit aufgewachsen sind, verstehen vieles nicht. Geflüster hinter den Türen oder offene Missachtung gegen die neuen Moden. Ich bin zwar ein bisschen jünger, aber auch ein Nachkriegskind, das in Trümmern spielte, Fliegerangriff war eins unserer liebsten Spiele. Nicht selbst erlebt, doch das Tagesgespräch der Erwachsenen. Wenn man fragte, wie es damals war, erhielt man keine Antwort, oder es wurde gesagt, man verstehe das sowieso nicht. Schweigen und Lügen – auf viele Fragen bekamen wir erst 20 bis 30 Jahre später eine Antwort; nur, weil einige den Mut hatten, weiterzubohren und offenzulegen. Dieser melancholische Roman hat Tiefe und gleichzeitig eine Menge Humor. Ein paar Mal habe ich laut und herzlich gelacht, denn es ist auch eine Lausbubengeschichte. Denn letztendlich geht es hier nicht um die Autobiografie an sich, sondern um die Auseinandersetzung mit der Zeit und seiner eignen Familie, den Lücken, und dem, was das aus einem macht. Und Edgar Selge sagt, er habe keine Autobiografie geschrieben, einiges sei fiktiv verdichtet oder montiert. Und genau deswegen ist es so gut geworden. Chapeau für dieses literarisch exzellente Werk! Eine Geschichte mit «einem Widerspruch, der gezeigt werden möchte»:
«Was ist eigentlich los mit Dir, Edgar? Wovor schämst Du Dich? Komm, sag es, spuck es aus.› ... «Ich will keiner sein, der den liebt, der ihn schlägt. So.»
Edgar Selge gehört zu den bedeutendsten Charakterdarstellern Deutschlands. 1948 geboren, wuchs er im ostwestfälischen Herford als Sohn eines Gefängnisdirektors auf. Seine Schauspielausbildung schloss er 1975 an der Otto Falckenberg Schule in München ab. Zuvor studierte er Philosophie und Germanistik in München und Dublin sowie klassisches Klavier in Wien. Für seine Arbeit wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Edgar Selge lebt mit der Schauspielerin Franziska Walser zusammen. Die beiden haben zwei Kinder. «Hast du uns endlich gefunden» ist sein literarisches Debüt.
Eine Rezension von gwyn aus der yourbook.shop-Community.
Quelle: Edgar Selge Bild: Rowohlt yourbook.shop
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klingt gut. Allein der Titel hat schon schon gereizt. ..