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Literatur

Fremdheiten und Freundschaften

Fremdheiten und Freundschaften

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtSamstag, 25.01.2020

Im Verlag [transkript], der sich für mich in den letzten Jahren zu einem der spannendsten Wissenschaftsverlage entwickelt hat, und ich muss zugeben, ich komme mit dem Lesen nicht hinterher, ist im Herbst des vergangenen Jahres ein Buch erschienen, das ins Herz gegenwärtiger Debatten führt, diese beleuchtet und dabei den historischen Prozess ihrer Entstehung nicht, wie es heute leider häufig geschieht, ignoriert. Es geht also nicht darum, dogmatisch auf Positionen zu beharren, sondern diese zur Disposition zu stellen, um ein Gespräch zu ermöglichen.

Das hängt natürlich mit der Autorin zusammen: Christina Thürmer-Rohr ist 1936 geboren und gehört zu den Pionierinnen der Genderforschung. Frauen ihrer Generation ist es zu verdanken, dass der Feminismus die Bollwerke des bislang männlich dominierten Akademismus überwunden hat und in die Machobetriebe, die sich Universitäten nennen, eindringen konnte. Natürlich ist, wenn man die Besetzung der Lehrstühle heutzutage betrachtet, dieser Prozess nicht abgeschlossen, aber die Bedeutung der feministischen Sicht auf soziale Strukturen und Prozesse ist kaum mehr zu ignorieren und sie beleuchtet weit über das eigentliche Geschlechterverhältnis hinaus Ausbeutungsverhältnisse in der Arbeitswelt, aber auch kolonialistische und postkoloniale Machtstrukturen und solche der Identitätskonstitutionen. 

In dem Sammelband „Fremdheiten und Freundschaften“ sind Essays der Autorin versammelt, die sich eben in jenen Spektren bewegen, ohne in eine, wie wir sie heute leider oft feststellen können, dogmatische Starre zu verfallen. 

Als Gewährsfrau erscheint im Hintergrund die Denkerin Hannah Arendt: Und vielleicht ist der Aufsatz "Anfreundung mit der Welt. Zum politischen Denken von Hannah Arendt" so etwas wie die methodische Klammer des Bandes. Er stellt eine Dialektik der Pluralität vor. Einerseits ist die Gesellschaft von Grundauf eine Plurale, aber andererseits ist Pluralität auch ständig bedroht:

„Pluraliät ist damit eine unabweisbare Tatsache und zugleich eine politische Forderung, wir müssen sie annehmen und wir müssen sie schützen.“

Gleichzeitig wendet sich Thürmer-Röhr gegen eine Interpretation der Pluralität als bloße Vielfalt, und ihr ist durchaus klar, dass eine plurale Gesellschaft Konflikte birgt, die ausgetragen werden, ausgetragen werden müssen.

„Das Eigene bricht sich am Anderen durch einen Abstand, der sich wie ein unsichtbarer Halt zwischen den Verschiedenen auftut, eine Grenze, mit der sie unterscheidbar bleiben.“ 

Auf dieser Basis entwirft sie mit Hannah Arendt eine Theorie der Freundschaft, die sich von den überlieferten archaischen Bindungstypen absetzt, und letztlich Freiheit innerhalb der Bindung ermöglicht. Überhaupt ist sowohl für Arendt, als auch für Thürmer-Rohr Freiheit das Ziel, an dem sich ihr politisches Denken ausrichtet. Eine Position, die in den politischen und theoretischen Grabenkämpfen der Gegenwart etwas in Vergessenheit geraten ist. Deshalb ist der Band von Thürmer-Rohr gerade heute so eminent wichtig. Und Freiheit bleibt die Folie, egal ob die Autorin sich mit literarischen Texten Thomas Manns oder Christa Wolfs auseinandersetzt, oder sich dem komplexen Thema das Schweigens nähert.

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Kommentare 1
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor fast 5 Jahre

    klingt faszinierend. danke für den hinweis

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