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Literatur

Filzstiftspitzenschnüffelgeräusche

Filzstiftspitzenschnüffelgeräusche

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtMontag, 14.03.2016

Okay, also zurück zum harten Baker-Stoff der frühen Jahre. "Zimmertemperatur" ist ein Buch, das man kaum besprechen kann, weil die Aufzählung seiner Vorzüge jeden Rahmen sprengen würde. (Offenbar hat die Masse das bei uns aber nicht erkannt: mein Exemplar ist bei der Wohlthat'schen Buchhandlung – deren Namen man auf so viele Arten falsch schreiben kann, daß ich jedesmal nachsehen muß -, gleich mit zwei sich unterbietenden, neongelben "nur..." Preis-Aufklebern versehen gewesen. Von DM 12,90 auf 2,99 Euro und für ein noch aberwitzigeres Preis-Leistungsverhältnis schließlich auf 1,99 Euro.) Baker hat mit seinen beiden ersten Romanen "Rolltreppe" und "Zimmertemperatur" eine Erzählweise erfunden, eigentlich eine ganze Sicht auf die Welt, und er hat der Wahrnehmung dessen, was uns umgibt, dutzende Türen aufgestoßen. Ich wüßte jedenfalls nicht, wer für diese Art zu schreiben ein Vorbild sein sollte (er selbst würde vielleicht John Updike nennen). Niemand erzählt so genau in den Details, so originell in den Idiosynkrasien, dabei so unabgehoben, so lustvoll in der Abschweifung, aber vor allem so voller Liebe. Der Rahmen für das schmale Buch ist die Zeit, die der Erzähler mit dem Stillen und in-den-Schlaf-singen seiner kleinen Tochter verbringt, die auf seinem Bauch liegt, während er im Schaukelstuhl wippt (dessen Knarr-Musik bei ihm natürlich genau analysiert wird). Wie schreibt man interessant über Kinder (noch dazu Babys)? Ohne Jammern über Schlafmangel und ohne für den Leser anstrengende Begeisterungsbekundungen? Ich kenne eigentlich nur dieses Buch, in dem das gelungen ist. Der Erzähler pustet in Richtung des Mobiles, das seine Frau aus interessant gefärbten Reinigungszetteln, die er in seiner Anzugtasche gefunden hat, gebastelt hat und Minuten später bewegen sich die Zettel, was erst einmal verstanden werden will und die Auszeit der Babybetreuung wunderbar beschreibt. Wie zärtlich es bei ihm klingt, wenn er die aerodynamische Form, die ein von der Zunge bearbeiteter Löffel Erdnußbutter besitzt, mit dem Bild, das seine schwangere Frau in einem Windkanal abgeben würde, vergleicht! Lauter Bilder von Liebe und Dankbarkeit: "Wir benutzten beide des öfteren unerfreuliche körperliche Enthüllungen, um die Macht der Liebe, die gröbsten Eigenheiten zu absorbieren und in liebenswerte und aufschlußreiche Dinge umzuwandeln, auf die Probe zu stellen." Funktioniert das auch mit der Enthüllung, daß man heimlich gepopelt hat? Hier wird das endlich durchdacht! Und was nicht noch alles! Episoden über Wettkämpfe im Luftanhalten, ein ganzes Kapitel über das Vergnügen, das einem die Komfort-Apparaturen im Flugzeug schenken, insbesondere die Luftdüsen (die ich immer als erstes zudrehe, auch beim Sitznachbarn, wenn er nicht guckt.) Überlegungen zur Gestalt der Satzzeichen, insbesondere des Kommas (durch das, nach seiner Theorie, nichtlateinische Prosa erst möglich gemacht wurde), und das nun in Gestalt eines kommaförmigen Lebewesens, das im Bett zwischen ihm und seiner Frau liegt, in sein Leben getreten ist. Und es gibt auch wieder schöne ich-auch!-Momente, z.B. wenn er beschreibt, wie er als Schüler bei einem Aufsatz, wenn ein Wort zufällig unter dem gleichen eine Zeile tiefer kam, ein Wiederholungszeichen gesetzt hat (ich auch!). Höchste Zeit, den fabelhaften Baker-Übersetzer Eike Schönfeld zu erwähnen, dem das Wort "Filzstiftspitzenschnüffelgeräusche" eingefallen ist, das ich nicht mehr missen möchte. Und weil im Internet zur Abwechslung auch einmal etwas Schönes stehen darf, noch ein typischer Baker-Satz: "Und so sagte mir Patty etwas vollkommen Neues, als sie mir 'Seladongrün' beibrachte; dennoch hatte ich von meiner Mutter her schon begriffen, daß Frauen der einzige Weg aus der braunen Welt waren: Frauen verwandelten das holzgetäfelte männliche Prinzip, die terrane Schmierigkeit von Erdnußbutter in die weibliche Emanation der Schönen Weißen Muttermilch der Welt, in Dutzende von Farbzwischentönen und, im späteren Falle Pattys, als diese zu Beginn ihrer Schwangerschaft regelmäßig jene stumpfen Löffelvoll Skippy futterte, in die feinen Abstufungen von Röte und blauen Schatten im Gesicht meiner Tochter."

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Kommentare 3
  1. Leopold Ploner
    Leopold Ploner · vor fast 9 Jahre

    Vorbilder, nun ja, Vorbilder ließen sich schon finden, neben dem erwähnten Updike vielleicht auch Flaubert, aber "unaufgeregt", das beschreibt sehr präzise die Eigenart der Prosa von Baker. "Filzstiftspitzenschnüffelgeräusche" kenne ich noch nicht, aber das werde ich nach dieser liebevollen Rezession schnell nachholen.
    Und mal so eine Frage unter Nicholson Baker Fans: Wie hältst Du, Jochen Schmidt es mit seinem vielleicht problematischstem Buch, "Human Smoke"?

    1. Jochen Schmidt
      Jochen Schmidt · vor fast 9 Jahre

      Warum ist das Buch problematisch? Er zitiert doch nur aus Zeitungen. Ich finde eher die zitierten Aussagen problematisch. Vielleicht meinen Sie seinen Pazifismus? Er sagt im obigen Essayband ziemlich deutlich, daß er als Pazifist gegen die Intervention der USA im Zweiten Weltkrieg gewesen wäre. (Und er führt gute Gründe an.) Aber ich denke, der eine oder andere radikale Pazifist schadet der Welt nicht.

    2. Leopold Ploner
      Leopold Ploner · vor fast 9 Jahre

      @Jochen Schmidt Nun ja, problematisch finde ich, dass das Buch als Relativierung der Naziverbrechen gelesen werden könnte. Mir ist schon klar, dass Baker das nicht so meint, aber die Argumentation kennt man bei uns von den Verharmlosern: "Völkermord, Konzentrationslager, Giftgas? Das haben die anderen doch auch gemacht!"

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