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Literatur

Die Zukunft zwischen Wien und Bratislava

Die Zukunft zwischen Wien und Bratislava

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtDienstag, 21.12.2021

Die Science-Fiction und die Fantastik sind auf dem Vormarsch, was mich an meine frühe Jugend erinnert, als ich utopische Romane, so hieß die Gattung im Osten, stapelweise verschlang. Seit einiger Zeit richtet sich mein Leseverhalten wieder darauf aus und gleichzeitig meine ich, eine Renaissance des Hegelianismus wahrzunehmen, der Philosophie überhaupt.

Das liegt an verschiedenen Büchern, die ich geschenkt und empfohlen bekam, deren Autorinnen ich kenne oder die mich einfach interessierten, weil sie Titel tagen wie „Lyophilia“ von Ann Cotten, „Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen“ von Pippa Goldschmidt oder „Helle Materie“. Es handelt sich dabei um Nah-Utopien, wenn man den Untertitel von „Helle Materie“ etwas erweitern mag. Die Autorin Sina Kamala Kaufmann etwa spricht dort von nah-fantastischen Erzählungen.

Gerade las ich auch „Auwald“ von Jana Volkmann, eine Art Roadmovie, in der sich die Welt zwischen Wien und Bratislava gewissermaßen nach innen stülpt. Mit der Bordkarte, die der Protagonistin gestohlen wird, verschwindet das Flussschiff.

Wir begegnen im Buch etwas weiter vorn dem miniaturisierten Arbeitszimmer Susan Sontags, das die Protagonistin, eine Schreinerin, repariert und rekonstruiert und nebenbei die Relationen einzelner Möbel richtigstellt. Im Weiteren übrigens erweist sich die erwähnte Strecke der Donau als eine Art Malstrom, in dem ein Schiff verschwindet oder aber die Realität. Je nach Standpunkt.

Meine alte Liebe zur Science-Fiction und zur Fantastik korrespondierte schon immer einer zur Philosophie und in den glücklichsten Momenten meines Lesens trafen sie aufeinander. Beide finde ich auch bei Volkmann aufgehoben. Wahrscheinlich, weil sie im Text über Strecken auf eine Folgerichtigkeit im strengen Sinn verzichtet. Und gerade deshalb dem real Paradoxen nahekommt.

Theorie ist nämlich auch notwendig Fantastik, weil sie, wenn sie im Erfahrbaren verharrte, zu nichts nütze wäre, außer zur Beschreibung des Erfahrenen. Was nicht nichts ist, aber in der Reduktion auf sich selbst an Substanz verlöre. Theorie verschwände irgendwann mit dem Erfahrenen selbst, nicht einmal zur Erinnerung wäre sie in der Lage. Nur insoweit vielleicht, dass ein Ich sich in der Erinnerung selbst als Fremdes begegnet und insofern einen neuen Erfahrungsraum öffnet.

In Lems Sterntagebüchern nimmt das eine manifeste Form an. Ion Tychi begegnet sich in einer Zeitschleife gefangen mehrfach selbst, bis er zu einer Gruppe geworden, sich und den anderen, die er ist, gemeinsam aus dieser Zeitschleife heraushelfen kann. Bei Volkmann geht die Fahrkarte in die Realität verloren und das Schiff wird durch ein überdimensioniertes Baufahrzeug ersetzt.

Und bei dem Philosophen Blumenberg klingt das im Rekurs auf Husserl so:

"Wenn nun das erinnernde Ich dem erinnernden Ich in gerade der Komplexion von Fremdheit und Andersheit fassbar wird, die auch in der phänomenologischen Analyse der Fremderfahrung gefunden wird, so erscheint dieser Sachverhalt dem Phänomenologen unter Anleitung Husserls als ein Faktum, das hinzunehmen ist als so etwas wie ein glücklicher Defekt an der Erinnerung, …" Hans Blumenberg: Phänomenologische Schriften. Berlin 2019. S.171.

Die Blumenbergausgabe, aus der ich hier zitiere, schenkte mir übrigens Ann Cotten. Und natürlich kann man die Bücher auch einfach so lesen und hat seinen Spaß.

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Kommentare 1
  1. Maximilian Rosch
    Maximilian Rosch · vor 3 Jahren

    Klingt wunderbar! Danke für den piq.

    Der Verbecherverlag hat direkt geteilt :) https://twitter.com/ve...

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