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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Von 1722 stammt Daniel Defoes journalistischer Bericht über eine Pestepidemie, die London 1665 getroffen hat. Defoe legt das Buch als Augenzeugenbericht an – unterfüttert mit zahlreichen Statistiken über Todesfälle in den einzelnen Pfarrbezirken –, dabei kann er kaum auf eigene Anschauung der Ereignisse zurückgegriffen haben, da er zum Zeitpunkt des Geschehens erst vier oder fünf Jahre alt gewesen ist. Vielleicht hatte er aber eine Erinnerung an die Ausnahmesituation in seiner frühen Kindheit.
Die Welt war damals nicht so global vernetzt wie heute, und auch die Nachrichten brauchten länger, um sich zu verbreiten, ein Medium sind immer noch Briefe:
"Nun gab es in jenen Tagen keine gedruckten Zeitungen, um Gerüchte und Neuigkeiten zu verbreiten und sie mit Selbsterfundenem auszuschmücken, wie ich es später noch habe erleben müssen. Sondern solche Nachrichten wie diese stammten aus den Briefen von Kaufleuten und anderen, die mit dem Ausland Beziehungen unterhielten, und von da sprach es sich lediglich von Mund zu Mund herum; auf diese Weise verbreitete sich eine Kunde nicht augenblicks im ganzen Lande, wie sie es heute tut."
(Und heute?)
Vorzeichen der Seuche war ein Schweifstern gewesen, den manche gesehen haben wollten. Alte Frauen sagten großes Unglück voraus, und warnten, die Stadt zu verlassen, "denn es werde eine solche Pest über London kommen, daß die Lebenden nicht mehr imstande sein würden, die Toten zu begraben." Ein anderes Medium für solche Voraussagen waren Bücher, "aber sicher ist, daß Bücher einen gewaltigen Schrecken verbreiteten". Die Behörden schritten ein: "Einige Anstrengungen wurden gemacht, den Druck von Büchern zu untersagen, die geeignet waren, Panik in der Bevölkerung zu verbreiten; und um sie abzuschrecken, wurden einige der Buchhändler in Gewahrsam genommen."
Anfangs bemühten sich Familien noch, Krankheitsfälle zu vertuschen, damit sich die Nachbarn nicht von ihnen abwandten, und damit die Behörden sie nicht – ein fast sicheres Todesurteil –, im Haus einschlössen, denn das war damals die Praxis. Befallene Häuser wurden verschlossen und mit Wachen gesichert, was aber nie ganz funktionierte, da die Wachen selbst starben, oder die Insassen Wege fanden, die Sperre zu umgehen. "In vielen Häusern hatte man das Nahen der Seuche vorausgesehen und Vorräte von Lebensmitteln angelegt." Defoe zieht sich nur zeitweise in sein Haus zurück, die Neugier treibt ihn raus. Oft geht er spazieren und berichtet über seine Eindrücke: "Aus den Fenstern und Türen der Häuser, wo ihre liebsten Angehörigen wohl im Sterben lagen oder eben gestorben waren, hörten wir, wenn wir durch die Straßen gingen, so häufig die Schreie der Frauen und Kinder, daß es auch dem Allergefühllosesten das Herz durchdringen mußte, es mitanzuhören." Es kommt aber auch zu einer Abstumpfung, irgendwann ging man einfach auf die andere Straßenseite, wenn man eine Leiche liegen sah.
Als es noch nicht zu spät war, stellte sich Defoe die Frage, ob er wie viele andere die Stadt verlassen sollte (was zur Ausbreitung der Seuche beitrug), er behauptet, damals Sattler gewesen zu sein, er wollte sein Geschäft nicht aufgeben, in das er allen Besitz investiert hatte. Außerdem "fehlte mir das Pferd."
Interessant sind Details darüber, wie die Menschen ihr Verhalten der Situation anpassen:
- Die Menschen gingen jetzt z. B. immer in der Mitte der Straße, um mit niemandem in Berührung zu kommen, der aus einem der betroffenen Häuser trat, aber auch um sich keinen Gerüchen und Dünsten auszusetzen. Denn man wusste damals noch nichts von Bakterien und ging davon aus, das Unheil breite sich "durch bestimmte Dämpfe oder Dünste, die die Ärzte Effluvia nennen", aus. Von ärztlicher Kunst kann damals noch nicht gesprochen werden, man behandelt die Geschwulste mit "Ziehpflastern und Breiumschlägen", man versucht sie zu öffnen, sie also aufzuschneiden oder mit Säure auszubrennen. Für das, was im Körper wirklich vor sich geht, hat Defoe keine Vorstellung und keine Sprache. Manche Leute fielen einfach tot um, sie wussten nicht, dass sie die Pest im Leibe hatten "bis das innerliche Gangrän ihr Lebenszentrum angriff".
- "Die Anwaltskammern waren alle geschlossen [..] Alle Welt war ja friedlich; für Rechtsanwälte gab es keine Arbeit."
- "Alle, die im Baugewerbe beschäftigt waren, hatten keine Arbeit, denn niemand hatte Lust, ein Haus zu bauen, wo so viele tausend Häuser plötzlich leer standen." Handwerksbetriebe schlossen, z. B. Hutmacher und Handschuhmacher. Da die Schifffahrt zum Erliegen gekommen war, verelendeten u.a. Ankerschmiede, Trockenküfer und Schiffsschnitzer. Defoe sieht das allerdings in einer uns unfassbar erscheinenden Weise pragmatisch, denn es stellte "eine Erlösung dar", dass die Pest gerade die Menschen dahinraffte, "die, wenn sie am Leben geblieben wären, durch ihre Armut eine unerträgliche Last gewesen wären; das heißt, die ganze Stadt hätte die Kosten ihres Unterhalts nicht bestreiten oder sie mit Nahrung versehen können."
- "Die Hanswürste, Spaßmacher, Puppenspieler, Seiltänzer und was dergleichen Tingeltangel mehr ist, um das einfache Volk zu betören, mußten schließen, da sie tatsächlich kein Geschäft mehr machen konnten; denn die Gemüter der Leute wurden von anderen Dingen bewegt, und das brachte eine Art von Trauer und Grauen auch in die Gesichter des gemeinen Volkes."
- Quacksalber stellten allerhand Mittel her und verkauften sie, z. B. eine "Anti-Pestilenzpille", oder ein "Unübertreffliches Kräftigungspulver gegen die Verpestung der Luft".
- Menschen liefen durch die Straßen, flehten zu Gott und bekannten: "Ich war ein Ehebrecher", oder "Ich habe einen Mord begangen."
- Allerhand Gerüchte kommen auf, z. B. eines, "nach dem es für einen Angesteckten ein natürliches Bedürfnis sei, andere anzustecken."
- Andere behaupten: "Daß die Ansteckung durch die Luft allein weitergetragen werde, indem sie ungeheure Mengen von Insekten oder unsichtbaren Geschöpfen mit sich führe, die mit dem Atem in den Körper gelangten oder sogar mit der Luft durch die Poren eindrängen."
- Zeitweise hat man draußen Angst vor Menschen, die eine weiße Mütze tragen oder ein Tuch um den Hals gewickelt haben, oder auf einem Bein hinken, weil sie eine Wunde an den Lenden schmerzen könnte.
- Alle Hunde und Katzen werden getötet.
- "Ich habe auch von solchen gehört, die beim Tode ihrer Lieben vor unerträglichem Trauerschmerz irrsinnig geworden sind, und von einem im besonderen, der so vollständig von der Gewalt, die seine Geister erlitten, übermannt wurde, daß sein Kopf nach und nach in seinen Körper hineinsank, so tief zwischen die Schultern, daß sein Schopf nur noch sehr wenig über das Schulterbein hinausragte; nach und nach verlor er Stimme und klares Bewußtsein, und sein Gesicht lag, vornübergebeugt, auf seinem Schlüsselbein und konnte nicht anders hochgehalten werden, als daß ein anderer es mit den Händen hochrichtete; und der arme Mensch kam nie wieder ganz zu sich, sondern siechte beinahe ein Jahr lang in diesem Zustand dahin und starb. Und nie konnte man ihn seinen Blick erheben oder einen bestimmten Gegenstand ins Auge fassen sehen."
Defoe ist weder regierungskritisch, noch fatalistisch, denn einerseits lobt er immer wieder die Behörden für ihr Vorgehen, andererseits ist er gottesfürchtig und glaubt daran, dass Gott zwischen Gut und Böse unterscheidet. Als er von einer Gruppe grober, gotteslästerlicher Männer beschimpft wird, die sich über einen Pestkranken lustig gemacht hatte, und die er zum Beten aufforderte, sagt er sich:
"Ich ging heim, in der Seele tief betrübt und bekümmert ob der scheußlichen Bosheit jener Männer, jedoch nicht im Zweifel, daß an ihnen Gottes Gerechtigkeit ein furchtbares Exempel statuieren werde; denn ich betrachtete diese grauenvolle Zeit als die ausgesuchte Stunde der Göttlichen Rache und war überzeugt, daß Gott bei dieser Gelegenheit die eigentlichen Gegenstände seines Mißfallens auf deutlichere und merklichere Art aussondern werde als zu anderen Zeiten."
Dieses Gottvertrauen geht ihm auch in keiner Sekunde verloren, alles hat einen höheren Sinn. Zwar geht er nicht davon aus, dass es für die ewige Bestimmung eines Menschen eine Richtschnur ist, ob er von der Seuche verschont wird, aber dennoch kann es ihm "nicht anders als vernünftig erscheinen anzunehmen, daß es Gott nicht wohlgefallen werde, gnädig so offen erklärte Feinde zu verschonen". Nach dem Vorfall liegt er eine Nacht lang wach, bis es ihm gelingt "für diese unseligen Bösewichter zu beten, daß Gott ihnen verzeihen möge, ihnen die Auen öffne und sie wirksam demütige."
Eine zweite Liste mit kuriosen Pest-Tips ließe sich anlegen:
- "Die Ansteckung gelangte gewöhnlich in die Häuser der Bürger vermittels der Dienerschaft", denn auf den Märkten wurde sie "mit dem tödlichen Atem angehaucht". Man sollte also seine Dienerschaft entlassen. (Auch damals mussten gerade die Armen weiterarbeiten, auch wenn es gefährlich war. Als Wächter, Pfleger, Grabträger.)
- Auf dem Markt, lässt man sich vom Fleischer das Fleisch nicht mehr geben, "sondern holte es sich selbst vom Haken."
- "Andererseits pflegte auch der Fleischer kein Geld anzufassen, sondern ließ es in einen Topf mit Essig tun."
- "Die Käufer führten immer genügend Scheidemünzen mit sich, um auch jede ungerade Summe recht machen zu können und kein Wechselgeld annehmen zu müssen." (Heute hat mir eine Apothekerin die Wechselmünzen direkt in die Hand gegeben!)
- Als jemand in einem Hof eine Geldbörse findet, beobachtet Defoe diese Szene: "Er ging also hinein und holte einen Eimer Wasser und setzte ihn dicht neben der Geldbörse nieder, dann ging er nochmals und holte etwas Schießpulver und streute reichlich davon auf die Börse, und dann machte er eine Zündlinie von diesem Pulver aus, das er lose auf die Börse gehäufelt hatte. Die Zündlinie reichte etwa zwei Yards weit. Danach ging er zum dritten Male hinein und kam mit einer rotglühenden Zange wieder, die er wohl für diesen Zweck vorbereitet hatte, und setzte zuerst die Zündlinie in Brand; das versengte die Börse und räucherte die Luft genügend aus. Aber damit war er noch nicht zufrieden, sondern er nahm dann die Börse mit der Zange hoch und hielt sie so lange, bis das heiße Eisen das Leder durchgebrannt hatte, und dann schüttelte er das Geld in den Wassereimer heraus und trug es hinein."
- Ein Küster überlebte, weil er "Knoblauch und Raute im Mund hielt und Tabak rauchte [..] Und seine Frau nahm Essig; sie wusch ihr Haar mit Essig, besprengte ihre Kleider mit Essig, so daß sie immer feucht waren."
- Viele Kranke verlassen die Stadt und irren einzeln oder in Gruppen durch die ländlichen Gegenden. Wenn sie sterben, begraben die Dorfbewohner ihre Leichen mit großer Vorsicht, sie versuchen "in einer bestimmten Entfernung von ihnen ein Loch zu graben und dann mit langen Stangen, an deren Enden Haken waren, die Leichen in diese Löcher zu zerren und dann über ihnen von so weit, wie sie nur werfen konnten, die Erde aufzuschütten, wobei sie auf die Richtung des Windes achteten."
- Wandert man aus der Stadt aufs Land, dann möglichst so, dass man den Wind, der aus der Stadt bläst, nicht gegen sich hat.
- Viele ziehen sich auf Schiffe zurück und lassen sich beliefern. "Manche hatten die Vorstellung, daß der Geruch von Pech und Teer und solcher anderen Stoffe wie Öl und Harz und Schwefelstein, die von allen im Schiffsbau tätigen Handwerksbetrieben so viel gebraucht werden, sie bewahren werde."
- Ein Mann, der es im Bett nicht mehr aushielt, rannte nackt durch die Straßen und sprang in den nächsten Fluss, "diese Schreckenskur soll ihn von der Pest geheilt haben, das heißt, die heftige Bewegung seiner Arme und Beine habe die Stellen, wo der Geschwülste hatte, gedehnt, nämlich unter den Armen und an den Lenden, und habe sie zur Reife gebracht, so daß sie aufbrachen, und das kalte Wasser habe das Fieber in seinem Blut niedergeschlagen."
- Ein anderer Mann hatte ein körpereigenes Warnsystem gegen die Ansteckung: "Er hatte eine Wunde am Bein, und jedesmal, wenn er unter Leute kam, die nicht ganz gesund waren, und die Ansteckung in ihn eindrang, dann, sagte er, merkte er es an diesem Signal, nämlich daß die Wunde in seinem Bein zu brennen anfing und blaß und weiß aussah; sobald er sie dann brennen fühlte, war es Zeit für ihn, sich zu verabschieden oder sich durch Einnehmen seines Tranks zu feien, welchen er zu diesem Zweck stets bei sich trug."
- "Ich habe gehört, nach der Meinung anderer könne man es erkennen, indem man den Betreffenden auf ein Stück Glas hauchen lasse; in dem Niederschlag des Atems könne man dann durch ein Mikroskop lebende Wesen sehen, von wunderlicher, ungeheuerlicher Gestalt, wie Drachen, Schlangen, Ottern und schrecklich anzuschauende Teufel." (1675 beobachtete Antoni van Leeuwenkoek zum ersten Mal mit selbst gebauten Mikroskopen Bakterien.)
- "Wieder ein anderer Gelehrter vertrat die Ansicht, der Atem einer solchen Person würde auf der Stelle einen Vogel vergiften und töten; und zwar nicht nur einen kleinen Vogel, sondern auch einen Hahn oder eine Henne, und wenn er eines dieser Tiere nicht gleich töte, so würde doch an ihnen die sogenannte Hühnerdarre hervorgerufen werden; insbesondere würden alle Eier, die ein Huhn dann noch lege, faul sein."
- "Einige haben vorgeschlagen, solche Personen sollten stark auf warmes Wasser hauchen, und dann würde sich ungewöhnlicher Schaum bilden."
- "Auch tat ich nicht, was andere, wie ich weiß, taten, nämlich sich immerfort in gehobener und angeregter Stimmung zu halten, indem man Herztränke oder Wein oder dergleichen zu sich nahm; dieses, so habe ich erfahren, hatte sich ein gelehrter Arzt so sehr angewöhnt, daß er nicht mehr davon loskam, als die Seuche schon längst vorbei war, und auf diese Weise für sein ganzes Leben ein Trunkenbold wurde."
- Erstaunlich aktuell scheint diese Beobachtung: "Aber die Sache war so, daß die Infektion sich unmerklich fortpflanzte und zwar durch solche Personen, die nicht sichtbarlich befallen waren und die weder wußten, wen sie ansteckten, noch von wem sie angesteckt worden waren."
Defoe zieht sich schließlich doch in sein Haus zurück und wendet sich Gott "mit Fasten, Bußübungen und Meditationen zu". Er liest Bücher, macht Notizen, braut Bier (!), legt einen Vorrat "an Salz, Butter und Cheshire Käse an." Das Buch endet mit der traurigen Feststellung, dass die Seuche die Überlebenden zwar geläutert habe, dass aber Undankbarkeit und jede Art von Bosheit bald wieder zurückgekehrt seien.
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Danke für die Neu-Lektüre.
Eine winzige Korrektur: Lange wurde, da der Autor erst mit 59 Jahren seinen ersten Roman vorlegte, dieses Buch als journalistischer Bericht wahrgenommen. Das ist es aber nicht:
https://de.wikipedia.o...
Truman Capote mit IN COLD BLOOD oder jüngst Eugen Ruge mit METROPOL traten in die Fussstapfen von Defoe.