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Freiheit erfordert Verantwortung
1982, ein Heizungsraum im Keller eines Kombi-Schulgebäudes für Gymnasium – Realschule in Franken, mehrere Reihen Klappstühle, an der Decke viele Rohre und Leitungen, ganz vorne eine Kinoleinwand. Eine Gruppe von SchülerInnen, wobei tatsächlich mehr Jungs als Mädchen anwesend sind und die meisten aus dem Gymi stammen, wartet hoch gespannt auf das, was sie gleich sehen werden. Damals revolutionär, heute Kult – The Wall, die Verfilmung des legendären Albums von Pink Floyd. Die Ironie, „We don’t need no education“ zum ersten Mal eben im Keller einer sogenannten Bildungsanstalt zu hören, mag den meisten damals entgangen sein. Aber genau das prägte für mich die Zeit damals – die mir heute offener vorkommen mag, als sie tatsächlich war. Alexander Gorkows Geschichte mit Pink Floyd geht tief und berührt, was unter der bunten Oberfläche der damaligen BRD, des Westens der 1970er-Jahre immer noch schlummerte und bis heute unsere Gesellschaft nicht im positiven Sinn beeinflusst.
1976, eine Grundschule im Raum Düsseldorf, genauer in Büderich, also tief im Westen der BRD gelegen, die der Ich-Erzähler in Alexander Gorkows autobiographischen Roman "Die Kinder hören Pink Floyd" mittlerweile in der vierten Klasse besucht. Er ist einer dieser Jungen, die eher unauffällig bleiben, still und unter Druck von zeitweiligem Stottern geplagt. Die ersten drei Jahre der Schule hatte er Claudette an seiner Seite – wer kennt das nicht: Grundschüler haben sich einen Partner zu suchen, mit dem sie, in Zukunft Hand in Hand das Treppenhaus bewältigen. Denn sicher ist wichtig, wenn auch nicht das Wichtigste.
"Man war zu Beginn des Schuljahres gebeten worden, sich einander zuzuteilen, indem sich jedes Kind ein anderes Kind sucht, das entsprechende Kind sichert, in dem man sich mit ihm an der Hand vor die Treppe in den ersten Stock stellt. Wichtiger als alles andere sind Ordnung, Zuteilung und Ruhe. Der Direktor, ein großer, alter Mann in einem dunkelgrünen Anzug, hatte am ersten Schultag über den Hof gerufen: „Schule ist Ordnung!“.
Doch die Ordnung kommt ins Wanken, als Hubi neu in die Klasse kommt und Claudette fortan an der Hand eines anderen Kindes gehen wird. Die Verlässlichkeit und Ruhe, die Claudette ausgestrahlt hatte, verschwindet und der etwa zehn Jahre alte Erzähler muss nun dem Druck, der ihn ab und an überkommt, anders standhalten. Häufig gerät er dann ins Stottern. Deshalb ist er bei Herrn Waltherspiel in Therapie – meist dann, wenn die Schwester, die mit einem Herzfehler geboren wurde, in der Uniklinik zu regelmäßigen Untersuchungen sein muss.
"Die Schwester ist zu diesem Zeitpunkt 16. Also bin ich neun oder gerade zehn.
Oft ist sie in der Universitätsklinik, für Wochen, manchmal Monate. Die Mutter nahm in der Schwangerschaft zur Beruhigung das Mittel Contergan, wie viele werdenden Mütter, die nachts immer noch wach wurden, weil sie meinten, es gebe Fliegeralarm, dabei hatte nur wer gehupt."
Die Mutter versucht, ihre Unruhezustände in den Griff zu bekommen, im Vertrauen darauf, dass Contergan ihrem ungeborenen Kind kein Leid zufügen würde. Und zunächst sieht es auch so aus, denn das Kind zeigt bei der Geburt keine äußerlichen Missbildungen, die für Schädigungen durch das Mittel so typisch sind. Dennoch wird die Schwester ihr Leben lang an ihrem nicht richtig ausgebildeten Herzen leiden und sich vielen Operationen unterziehen müssen. Und gerade wegen dieses Herzfehlers entscheidet sie, selbst zu bestimmen, wie sie leben will..
" Zufall und Pech verformten das Herz, und so sind Zufall und Pech keine Größen mehr in ihrem Leben, entscheidet die Schwester. Sie wird von nun an selbst entscheiden, sie wird alles selbst regeln und nichts mehr geschehen lassen."
Und dazu gehört es, die Musik von Pink Floyd am besten auf der edlen Musikanlage des Vaters, seines Zeichens Jazzkenner, so laut wie möglich zu hören. Bewaffnet mit einem Wörterbuch und zusammen mit ihrem Bruder taucht sie nicht nur in die Musik ein, sondern analysiert die Texte ihrer Lieblingsband regelrecht. Breathe ist eines der Stücke, das die beiden bei geöffneten Fenstern so laut hören, dass sogar die Nachbarschaft den Herzschlag, mit dem der Song beginnt, wahrnimmt und ihn für den der Schwester hält.
"Das Fenster zum Garten steht offen. Alle hören das Herz. Sie hören die Uhren ticken, die Wanduhren scheppern, die Registrierkassen rasseln. Die Schwester trägt das Cover der Schallplatte umher, aufgeklappt, barfuß geht sie auf dem Teppich durch den goldenen Tag. Die Ärzte haben prophezeit, dass sie jetzt wirklich bald stirbt. Die vom Contergan und also der Firma Grünenthal zerstörten Herzklappen werden scheitern am wachsenden Herzen."
Überhaupt beschreibt Alexander Gorkow die Menschen, die diesen Ort bevölkern trotz ihrer teilweise loriotesque anmutenden Eigenheiten wertfrei und aus dem kindlichen Blick seines Erzählers, was dem Ganzen trotz der Ernsthaftigkeit der Situation eine gewisse Komik verleiht. Der Vater zum Beispiel ist prinzipiell ein sehr logischer und kritisch veranlagter Mensch, dennoch setzt er eisern darauf, dass der Garten und vor allem die Rosen ihre Portion Gift benötigen, dieses aber seiner Familie nicht schaden wird.
" Im Garten gehe ich immer zwei Schritte hinter dem Vater, der Gift sprüht. Die Stauden, die Wiese, die Obstbäume, auch die Quitten, die eh bald gepflückt werden, verschwinden im Nebel des Giftes. So auch er selbst, der Vater, den man, wenn er lange sprüht, kaum noch sieht in der Wolke fabelhaft wirksamen Gifts. Die Sache mit dem Gift erledigt er, niemand sonst. Man darf ihn aber begleiten und ihn würdigen. […] Die Idee, dass das Gift nicht nur Schädlinge, sondern auch uns ruinieren könnte, die Schwester mit ihren Klappen, mich, im Nebel stehend und den im Nebel stehenden, dabei rauchenden Vater bewundernd, diese Idee ist abwegig. Das Gift gilt Schädlingen, nicht uns. Man sollte das Konzentrat nicht trinken, deshalb die Totenköpfe auf der Packung, es ist keine Limonade. Aber wer käme auf die Idee? ;Man soll Zigaretten auch nicht essen. Raucht man sie, tun sie gut, man kann sich dann gut konzentrieren und Dinge in Angriff nehmen. Maß und Mitte. Solange man mit Freiheit umzugehen weiß, ist sie eine große Sache, Freiheit erfordert Verantwortung, lehrt der Vater."
Und dass es in den 70er-Jahren noch Freiheiten gab, über die man heute nur den Kopf schütteln kann, das zeigt Gorkow ebenfalls. In der Kindermatinee des „Kinos“ am Ort, die jeden Sonntag stattfindet, werden zum Beispiel Filme gezeigt, die sich eben amortisieren müssen – so sieht der Ich-Erzähler viel zu früh einen Streifen namens „Die Nacht der reitenden Leichen“, den er als Kunstwerk betrachtet und der nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Auf vielerlei Weise. Auch nachdem aufgebrachte Eltern, die nichts davon wussten, dass ihre Kinder solch einen Horrorfilm vorgesetzt bekommen, das Kino zunächst schließen und das Betreiberehepaar dazu verpflichten lassen, diesen Film nicht mehr zu zeigen, halten sich diese nur wenige Woche daran. Was ist schon so ein Horrorstreifen, gegen den wahren Horror, den viele der Erwachsenen Jahre zuvor erleben mussten. Der Ich-Erzähler sieht den Film mehrmals und ist fasziniert davon. Als Leserin könnte man darin einen Grund für sein Stottern oder gewisse Ängste vermuten.
Überhaupt existiert in Büderich in den 70er-Jahren noch viel mehr Vertrauen in gewisse Umstände. Ganz besonders aber in Waren made in Germany wie zum Beispiel den Dampfkochtopf, der alljährlich die Quitten aus dem Garten so zuverlässig einkocht. Während die Mutter Bedenken äußert, dass der Topf doch tatsächlich einmal explodieren könnte, wischt der Vater diese mit Vertrauen in die Zuverlässigkeit deutscher Qualität vom Tisch.
" Jedes Jahr dieselbe Frage: Was, wenn der Topf explodiert?
Der Vater: „Der Topf kann nicht explodieren, bei Überdruck schaltet sich das Ventil ein, und die heiße Luft entweicht.
„Was, wenn das Ventil sich nicht einschaltet?“
„Es schaltet sich bei Überdruck das Ventil ein, und die heiße Luft entweicht.“
„Und wenn es nicht funktioniert?“
„Es funktioniert. Der Topf ist so gebaut, dass es funktioniert.“
„Was, wenn es nicht funktioniert?“
„Der Topf funktioniert. Seit unserer Hochzeit. Der Topf kommt aus Deutschland.“
Eisen, Verbrennung, Abluft, Präzision. Der wendige, eilende Vater, der beim Kochen, Waschen, Verräumen und Lagern, wenn er nicht selbst Hand anlegt, so doch nach dem Rechten sieht, umsortiert, neu anordnet, Heizplatten an- und ausstellt, seine Leute dirigiert. Der deutsche Topf verweist auf Frieden, Nutzbarkeit und Wertschöpfung. Der Topf nimmt zwei Herdplatten ein, die beide Feuer geben müssen, um die Vorräte in einem Rutsch gewaltig zu erhitzen. (Wir werden nie wieder hungern.)"
Ob der Dampfdrucktopf dem Vertrauen des Vaters gerecht werden kann – das lest ihr am besten selbst nach.
Gorkow zeigt die dramatischen Nachwirkungen des verheerenden Zweiten Weltkriegs auf die Menschen durch Sätze wie „(Wir werden nie wieder hungern.), das unausgesprochene Einverständnis zwischen dem Vater und dem Nachbarn, das sich durch Sprachlosigkeit ebenso auszeichnet, wie durch kurze, von langen Pausen durchzogene Gespräche, in denen beide Männer rauchend auf jeweils der eigenen Seite des Gartenzauns stehen oder die Mutter lange unter Unruhe leidet, die sie zu dem als für Schwangere unschädlich erklärten Contergan greifen lässt und damit die Auswirkungen des Krieges ungewollt aber ganz direkt an die nächste Generation weitergibt. Das alles geschieht fast nebenbei, aber eben in der Situation so exponiert, dass der sonst herrschende Lesefluss kurz, aber prägnant unterbrochen wird. An einer Sache aber bleibt kein Zweifel: Nazis und Faschisten sind ein Thema, das vor allem die Jugend beschäftigt, auch weil sie im alltäglichen Bild ständig sichtbar sind.
"Die Kinder hören Pink Floyd" hat mich überrascht und sehr beeindruckt, gerade weil es ein sehr persönliches Buch ist, dessen Autor es sehr gut versteht, hinter dem Text zu bleiben und die Geschichte in den Vordergrund zu stellen. Eine Geschichte, die viel mehr ist als die einer Familie, eine Geschichte, die uns alle betrifft und das auf angenehme, eloquente, scharfsichtige und unterhaltsame Weise, die viel Raum lässt für die Absurditäten unseres Lebens. Und für das, was wir heute manchmal bitternötig hätten: Das Zulassen von Vielfalt, die heute gerne durch Vereindeutigung verdrängt wird.
Eine Rezension von Brigitte von Freyberg, in der yourbook.shop-Community bekannt als Bris Buchstoff.
Quelle: Alexander Gorkow Bild: KiWi yourbook.shop
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