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Literatur

Die jüngsten Tage: Tom Müller, die US-Open und ich

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelDonnerstag, 12.09.2019

Ob ich meinem Lektor traue, fragt die argentinische Frau meines Bruders am Dienstagabend. Wir sitzen zu dritt hinten in der überfüllten Fahimi-Bar. Vorne auf der Bühne sitzen Tom Müller und Simon Strauß und machen die Buchpräsentation von Toms Roman-Debüt „Die jüngsten Tage“, das gerade bei Rowohlt erschienen ist und von dem er mir früh ein Leseexemplar zukommen ließ, mit Bad Reading-Aufforderung zum Rollenwechsel: Autor liest Lektor. Wochen später hatte ich den Roman über die Bahn-Irrfahrten des Jonathan Buck zwischen Ost-Kindheit und Männerfreundschaft, verzweifelter Liebe zu einer Italienerin und bolañohaft wahnsinniger Literaturbegeisterung für ausgerechnet den dekadenten Faschismus-Dichter D’Annunzio an einem heißen August-Sonntag im Oranke-Bad zu Ende gelesen. Es hatte mich so mitgenommen, als wären Holden Caulfield oder mein kleiner Bruder mit einem großen Lebensproblem zu mir gekommen, um nach einem Rat zu fragen, den es nicht gibt. Über die Mail mit dem Lektürebericht hat Tom sich gefreut.

Jetzt erzähle ich der argentinischen Frau meines Bruders, dass das eine sehr gute Frage ist, weil wir befreundet sind und natürlich kein Autor jemals seinem Lektor traut. Dann erzähle ich ihr – in Kurzform – von unserem Rollenwechsel und von der Mail an meinen Lektor über seinen Roman. Denn als ich diese Mail, die weder besonders schleimig noch besonders unkritisch ist, am letzten Sonntag wiederlas, um auf ihrer Grundlage noch vor dem US-Open-Finale am Abend etwas über das Buch zu schreiben, überfiel mich bei diesem Wiederlesen ein leichter Ekel vor dem Tonfall, in dem die Mail verfasst war (ein eigentlich vollkommen okayer, höchstens etwas euphorisch rauer Tonfall, wie er sich zwischen uns eingebürgert hatte, als wir letztes Jahr in sechs Monaten meinen Tennisroman durchgeprügelt hatten). Und ich schrieb lieber nichts mehr.

Stattdessen erzähle ich der argentinischen Frau meines Bruders auf der Premieren-Lesung der "Jüngsten Tage" lieber von dem US-Open-Finale zwischen Daniil Medvedev und Rafael Nadal, das mich immer noch beschäftigt: Auf der einen Seite der coole junge Russe mit seinem seltsam unbeteiligten Dostojewski-Tennis (gebeugt-geschaufelte Rückhand, hingeschleuderter Zweiter Aufschlag mit 200 km/h, Laufstil wie eine Beavis&Butthead-Comic-Figur), auf der anderen die superathletische spanische „Tennisroman“-Legende (schwarzes He-Man-Outfit mit balearischen Strand-Stirnband, als Rechtshänder den linken Schlagarm zur muskulösesten Vorhand des Planeten übertrainiert, Psycho-Tics ohne Ende). Als Beobachter hatte ich das Gucken des Matches nachts um zwei nach dem dritten Satz aus Müdigkeit abgebrochen und mir den Rest aufgenommen, um ihn am verregneten Montagmorgen gleich zum Frühstück hochkonzentriert und incomunicado weiterzugucken (kein Internet, kein Radio, kein Telefon sollte mir das Ergebnis verraten).

Eigentlich wollte ich im Bildsuchvorlauf durch das Match rauschen, um nur die entscheidenden Spielstände in Realzeit zu sehen (in etwa so, wie ich Romane lese) und nicht Stunden wertvoller Schreib-Zeit mit Tennisgucken zu vergeuden. Aber dann wurde plötzlich jeder Punkt und jedes kleine Detail dieses jederzeit zwischen verhungerten Lowlife-Stoppbällen und epischen High-Speed-Ballwechseln zu wichtig, um mir die beiden letzten Sätze nicht ganz genau und in voller Länge anzuschauen.

Medvedevs ungerührter Blick, mit dem er es einfach hinnahm, wenn Rafa schon wieder einen guten ersten Aufschlag mit erhobenen Armen passieren ließ („war noch nicht fertig“ – so was hat in den Bezirksliga-Turnieren meiner Jugend immer sofort zu Schlägereien geführt). Nadal, der für das zu lange Tippen des Balls vor dem Aufschlag eine time-violation kassierte, den Ball sofort zum Balljungen wegwarf, um den zweiten Ball für den zweiten Aufschlag weiterzutippen. Medvedev, der Nadals zwänglerischen Perfektionismus damit konterte, dass er sich einen losen Schnürsenkel einfach in die Innenseite seiner silbernen Nike-Botten steckte. Während Rafa fast einen Nervenzusammenbruch erlitt, als er schnell-schnell (Stichwort time-violation!) mitten im Spiel die Schläger wechseln musste und dann extra noch mal zu seiner Bank zurücklief, weil die dort gestapelten Ersatz-Rackets anschließend nicht GENAU übereinander lagen (als würde damit auch alles andere um ihn herum sofort auseinanderfallen und ins Chaos stürzen). Und schließlich nach fünf Stunden der Handshake der beiden Gegner: Nadal jubelte mit dem existentialistischen Pathos eines alternden Boxers, der von einem dunklen Ort kommt (der Privathölle seines beinharten Trainings). Medvedev wie der Joker aus Batman, dem nichts lächerlicher erscheint als dieses Pathos, und der selbst als Unterlegener sogar noch einen schulterklopfenden Joke für den Sieger parat zu haben schien (über den Spielverlauf? - zumindest sah es auf eurosport so aus). Was Nadal bei dieser Schlußarmung mit der jungen, postpathetischen Generation sichtlich nicht ganz geheuer war, so dass er sich selber zu einem jokeresken, wie eingemeißelt zerquälten Grinsen zwang.

"Und du bist Medvedev ohne Pathos und dein Lektor ist Nadal mit Pathos?", sagt die argentinische Frau meines Bruders und weist mich darauf hin, dass die ganze Analogie ja allein schon wegen unseres Altersverhältnisses nicht stimmen kann. Dann beginnt die Lesung.

Simon Strauß liest feierlich etwas vom Blatt ab, das - "Sind wir denn lebensmüde?" -  wie eine feierliche Laudatio oder FAZ-Rezension auf seinen Freund und Lektor klingt, mit der er ihn endgültig im Reich der Autoren begrüßt. Vor mir sitzt ein sympathisches älteres Paar und hält sich an den Händen. Dann liest Tom aus dem Roman vor. Er macht das sehr gut, mit einer angenehm ruhigen Stimme und für meinen Geschmack bloß zu langsam (aber das könnte auch an mir liegen: ich bin - nach Jahren des Text-Overkills, dem ich mich selbstmörderisch aussetze - zu nervös und ungeduldig für ein bedächtiges Lesetempo ... und schnelles Vorlesen ist gewissermaßen die Form von Selbstmord, die ich von jedem Autor erwarte). Insgesamt gelingt es Tom aber mit seinem jugendlichen Charme sowohl im Roman als auch bei der Lesung, den hohen Ton einer ziemlich unglaubwürdigen DDR-Begeisterung für D'Annunzio wieder zu erden, bevor ihm das ganze antibürgerliche Pathos seiner "Stadtrandhelden und Ossis" um die Ohren fliegt. Oder, wie es Richard Kämmerlings in seiner unten verlinkten Rezension sehr schön auf den Punkt bringt:

Jonathan läuft wie ein offenes Messer durch die Welt, weil er das Gefühl braucht, noch nicht stumpf und verrostet zu sein ... Es ist die große Stärke dieses Debüts, dass seine desillusionierende Botschaft von seiner erzählerischen Kraft in der Waage gehalten wird, man könnte auch sagen: das Erwachsene und Reife des Buches von seiner Jugendlichkeit.

Als der Applaus nach der Lesung verhallt ist, trinken die argentinische Frau meines Bruders und ich einen Sekt (sie) und ein alkoholfreies Bier (ich, wie mein großes Vorbild Bolaño) und unterhalten uns noch ein bisschen über Ich-Texte und insiderisches Schreiben. Am nächsten Morgen schickt mir mein Bruder ein seltsam friedliches Foto, wie Tom zu später Stunde, lange nachdem ich gegangen bin, allein auf der Bühne in einer sich leerenden Fahimi-Bar seinen Roman signiert.

Die jüngsten Tage: Tom Müller, die US-Open und ich

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Kommentare 2
  1. Frank Willmann
    Frank Willmann · vor mehr als 5 Jahre

    Bis auf das Tennisgeschwafel nicht schlecht

    1. Maximilian Rosch
      Maximilian Rosch · vor mehr als 5 Jahre

      Echt, findest du? Mir gefällt die Tennisbeobachtung erst recht. Ist besser als jeder Tennisbericht, den ich in der letzten Zeit gesehen habe.

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