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Literatur

Der geschichtete Keks

Der geschichtete Keks

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtDienstag, 10.12.2019

Es gibt Bücher, die erscheinen und versinken sogleich in der Versenkung, werden kaum wahrgenommen, vergessen, verdrängt; vielleicht, weil ihre Zeit noch nicht gekommen ist, weil ihr Humor die Leserinnen und Leser überfordert, weil sich kein einsichtiger Feuilletonist fand, keine aufmerksame Kritikerin, die Kraft eines solchen Buches zu erkennen, oder weil diese Einsicht, vielleicht auch erkannt und geäußert, im gesellschaftlichen Diskurs trotzdem nicht auf fruchtbaren Boden fiel.

Manchmal verkapselt sich so ein Buch als langlebiger Samen und harrt seiner Entdeckung, die ihn aufkeimen lässt, weil die Zeit plötzlich günstig dafür scheint. Das hier verwendete naturalisierende Bild verbirgt allerdings, dass die Möglichkeit des Aufkeimens natürlich auch mit der politischen Großwetterlage und jeweiligen mikroklimatischen Ereignissen zusammenhängt, und einer gesellschaftlichen Bewegung, die Raum schafft für Vergessenes und Verdrängtes.

Die Schriftstellerin Fran (Frances Dolores) Ross wurde 1935 als Tochter einer afroamerikanischen Mutter und eines jüdischen Vaters geboren und wuchs in Philadelphia auf. Ihr Roman „Oreo“ erschien erstmals 1974, geriet in Vergessenheit und wurde vor einigen Jahren neu entdeckt, was zu einer euphorischen Aufnahme des Textes in der amerikanischen Literaturwelt führte. 

Jetzt liegt der Roman, der der einzige der Autorin blieb, bei DTV in einer Übersetzung von Pieke Biermann auch auf Deutsch vor. Ich denke, dass die Übersetzung des Buches eine enorme erfinderische Anstrengung verlangt hat, denn die herkunftsmäßige Vermischung der Identitäten bildet sich im Text in der Verwendung von Slang, Dialekten und Soziolekten ab. Für ihre Formen und Vermischungen je eine Deutsche Entsprechung zu entwerfen, muss eine große, vielleicht auch lustvolle Tüftelei gewesen sein, zumal es Pieke Biermann gelungen ist, dieses Sprachenensemble in einer höchst lesbaren und amüsanten Art zu präsentieren, die dem Rossschen Original sicherlich nahekommt.

Diese Tüftelei jedenfalls korrespondiert der Situation der Heldin des Buches; auch sie ist, wie die Autorin Ross selbst, gesegnet mit einem jüdischen Vater und einer afroamerikanischen Mutter, bei der sie aufwächst. Und von der Mutter macht sie sich auf den Weg durch die anklingenden Sprachgegenden nach New York, dem Vater zu begegnen.

Eines der vielen Highlights für mich im Text sind übrigens die quasiphilosophischen Reden des Milchmannes Milton über Sex, wenn er die Heldin verabschiedet. Und außerordentlich auch ist die Neigung der Heldin Oreo zu Mathematik und Kombinatorik, als sei das im alltäglichen Wirrwar die einzig mögliche Konstante, weil sie sich auf einer abstrakten Ebene von den Eigenarten ihrer Elemente befreit. Natürlich treiben dadurch die Aufzählungen ins Absurde:

„Als die Bahn an der Arena und der goldenen Kuppel auf dem Uhrturm der Provident-Multual-Versicherung vorbeigerattert war und im irren Schweinsgalopp wirklich unter die Erde und in die Station Fortieth Street einfuhr, war Oreo bei der Frage, wie viele Leute in Honolulu sich in diesem Augenblick kratzen.“

Aufmerksam geworden bin ich auf das Buch durch einen Hinweis des Sozialwissenschaftlers und Lyrikers Max Czollek auf Facebook.

Max Czollek, der sich in seinem eigenen Buch „Desintegriert Euch!“ für eine radikal plurale Gesellschaft ausspricht, hat dem Rossschen Roman ein Nachwort geschrieben, in dem er formuliert:

„Oreo ist ein großartiger Versuch, der Komplexität menschlicher Identitäten gerecht zu werden – kein identitätspolitisches Statement, sondern eine literarische Antwort auf die damals wie heute brennende Frage nach Verbindungen zwischen angeblich Gegensätzlichem – beispielsweise Schwarz und Weiß oder Jüdisch und Nichtjüdisch –, die in den herrschenden Narrativen kaum vorkommen.“

Ein großartiges Buch, das die Absurdität der Reinheitsvorstellungen lustvoll dekonstruiert.

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Kommentare 2
  1. Uwe Protsch
    Uwe Protsch · vor 5 Jahren

    Lieber Jan Kuhlbrodt, zwar macht mich der Text neugierig, aber ein bisschen mehr Information zum eigentlichen Inhalt des Romans wäre mMn durchaus angemessen gewesen. Oder wollten Sie mich mit nur knappen Hinweisen dazu verleiten, selber zu recherchieren? Das ist Ihnen gelungen ...

    1. Jan Kuhlbrodt
      Jan Kuhlbrodt · vor 5 Jahren

      Das ist vielleicht die Schwierigkeit. Ich weiß nie genau, wie viel ich referieren soll von der Handlung. Allerdings speist sich in diesem Fall der Genuß zum großen Teil aus den umschriebenen Situationen. Und der Komik, die darin liegt.

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