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Literatur

Dank Jurjew lese ich Dobyčin

Dank Jurjew lese ich Dobyčin

Jan Kuhlbrodt
Autor und Philosoph

*1966 in Karl-Marx-Stadt
Studium in Leipzig und Frankfurt am Main
Redakteur bei EDIT und Ostraghege
freier Autor
letzte Veröffentlichungen: Kaiseralbum (Verlagshaus Berlin), Das Modell (Edition Nautilus), Die Rückkehr der Tiere (Verlagshaus Berlin)

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Jan KuhlbrodtFreitag, 05.05.2017

Literatur entsteht aus Literatur und führt zu Literatur.

Gerade las ich den neuen Roman von Oleg Jurjew, der im Frühjahr im Verbrecher Verlag erschien. Ein grandioses Buch (ich hatte von Jurjew allerdings nichts anderes erwartet. Seit ich in den Neunzigern das erste Mal einen Text von ihm las, bin ich gewissermaßen sein Fan.) Ein Buch, das aus drei fiktionalen Briefen besteht. Als Absender fungieren drei Schriftsteller aus unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlicher Herkunft. Ein gewisser Pryschkow schreibt an Dostojewski, weil er sich als Vorbild einer der handelnden Personen in dessen Roman „Die Dämonen“ erkannt zu haben glaubt. Jakob Michael Reinhold Lenz schreibt am Tag seines Todes an seinen Gönner Karamsin. Im ersten der drei Briefe aber schreibt ein L. I. Dobytschin an den sowjetischen Autor und Kulturfunktionär Kornel Iwanowitsch Tschukowski.

Dieser Brief beginnt mit dem Datum 19. Juni 1954 und entwirft so etwas wie eine sowjetische Literaturgeschichte, aus einer Sicht von schräg unten. Vorbild des Briefeschreibers ist ein Autor, von dem ich, bis ich Jurjews Buch las, noch nichts gehört hatte. Allerdings brachte mich das Buch dazu, der Sache nachzugehen.

Dobytschin wurde 1894 geboren und verschwand am 25. März 1936 spurlos, nachdem man ihm bei einer Sitzung des Schriftstellerverbandes Formalismus vorgeworfen hatte. Sein Schicksal ist ungewiss.

Und wiedereinmal merkte ich, welch ein Glücksfall die Arbeit des kürzlich verstorbenen Slawisten und Übersetzers Peter Urban war. In der Friedenauer Presse erschien 2013 ein Band mit den Erzählungen Dobyčins in seiner Übersetzung. (Urban benutzt die international gängige Transkription aus der kyrillischen Schrift.) Und dieser Band hat es in sich!

Die zumeist nur wenige Seiten umfassenden Texte entwerfen schlaglichtartig ein Bild der Situation der Sowjetunion in den zwanziger Jahren, nicht in dem sie den Transformationsprozess der Gesellschaft schildern, sondern indem sie das Ineinanderschieben traditioneller Denk- und Sprechweisen mit denen der sich forciert entwickelnden ideologisch geprägten zeigen. Christliches, jüdisches und sowjetisches Vokabular ergibt das zuweilen Irrwitzige am Leben in dieser Umbruchszeit frei.

Vielleicht illustriert der Anfang der Erzählung „Begegnungen mit Liz“ das, was ich damit meine:

„Im Gehen die Schultern wiegend, mit hoch erhobenem Kopf, ein siegreiches Lächeln auf dem mit Puder lila gefärbten Gesicht, bog Liz Kurycina aus der Straße der Deutschen Revolution in die Straße der Dritten Internationale.

Bei jedem Schritt den Rumpf bald nach rechts, bald nach links wendend, schwenkte sie, wie ein Weihrauchfaß, einen aus Schnur geflochtenen Beutel, in dem eine hellblaue Schale mit gelben Blumen steckte.

Der Klub des Strafbataillons war festlich erleuchtet, im Innern dröhnte Musik, an der mit Tannenzweigen geschmückten Tür hing die Ankündigung: die Truppe des Bataillons wird zwei Theaterstücke geben – ,Die Schwiegermutter im Haus – und alles ist aus' sowie ein antireligiöses.

Die Teekanne stand schon auf dem Samowar. Die Mutter saß über dem Evangelium.

Ich war bei der Beichte.“

Grandios in den Texten von Dobyčin ist deren Lakonie, das Trockene des Zusammenpralls. Und diese Lakonie scheint mir eine Eigenart Leningrader Literatur der Zwanziger und Dreißiger des Vergangenen Jahrhunderts zu sein. Autoren wie Charms, Vvedenskij und eben auch Dobyčin legen davon Zeugnis ab.

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