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Bestseller

Bestseller

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelMontag, 28.05.2018

"Und, kommst du noch nach?" – fragt mein Kumpel unten aus dem Angelladen, der einzige, der noch wirklich den Überblick hat, weil er die ganzen Bücher, die ich mir dieses Frühjahr schon zusammenbestellt habe, von der Post für mich entgegennimmt. Er macht sich langsam Sorgen.

Er hat recht, ohne so richtig zu wissen, wieso. Vor allem, weil die letzten beiden Feuilletonwochen so hart gewesen waren:

Erst wurde mit Christian Krachts Frankfurter Poetik-Vorlesung aus Literatur eine Glaubensfrage gemacht (wie hältst du's mit der Ironie?) – und der Lieblingsautor verwandelte sich seinen schlimmsten Feinden an, indem er kein Popliterat, sondern lieber eine billige Thomas-Mann-Parodie sein möchte.

Und dann starb auch noch Philip Roth. Kein verdammter Nachruf, in dem nicht als erstes bejammert wurde, dass er nie den Nobelpreis bekommen hatte: Als wäre Weltliteratur so was wie WM im Schreiben – und dann gewinnt immer nur Afrika und Australien. Und eben nicht – was für ein Scheiß! – einer "der letzten drei großen weißen Männer Amerikas" (also Kracht, Bellow, Updike). Daran ändert auch nichts, dass Philip Roth, der alte Schwimmer, die Sache offenbar ähnlich kompetitiv sah: "Mal lag er vorne, mal ich". Oder: als wäre heute noch ernsthaft auch nur ein wirklicher Leser (und nicht nur Bücher-ins-Regal-Steller) für ein Werk gewonnen, das dafür erst mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden muss. Bei Roth gefallen mir vor allem die letzten drei Novellen, als er nicht mehr ganz so cocky an sein Schreiben ging, und unter denen am meisten das großartige Indignation/ Empörung, wo der Leser mitten im Text erfährt, dass der Ich-Erzähler schon lange tot ist…

Aber mit solchen Sachen verschone ich den Angelladenbesitzer natürlich. Stattdessen sage ich:

„Ich weiß, was du meinst. Da oben in der Schreibwohnung stapeln sich Knausgård, Saunders, Serhij Zhadan, Rachel Cusk …“ Ich sage ihm, dass das alles richtige Wälzer sind, die ich in Ruhe den ganzen Sommer über abarbeiten werde, wenn die WM und das Schlimmste erst mal vorbei ist. Und beruhige ihn dann damit, dass ich momentan aus Motivationsgründen sowieso nur noch Bestseller in einfacher Sprache lese.

Zum Beispiel Jörg Magenaus "Bestseller" (Hoffmann & Campe). Darin untersucht der Literaturkritiker und Autor ("Princeton 66. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47") deutsch-deutsche Bestseller seit 1945 - und was sich aus ihnen gewissermaßen populärmentalitätsgeschichtlich über die Bundesrepublik ablesen lässt. Das Buch geht super los mit Theodor Plieviers „Stalingrad“ (1945) und C. W. Cerams (alias Kurt Mareks selbstlektoriertem) „Götter, Gräber und Gelehrte“ (1949) – Werke, die die Deutschen universalgeschichtlich mit dem totalen Zusammenbruch auch anderer Reiche vor ihnen trösten, versöhnen oder noch schlimmeres sollten.

Allerdings ist man ziemlich schnell genervt von Magenaus Wir-Erzähler und seiner Grundthese, die beide schon im Untertitel vorstellig werden:

"Bücher, die wir liebten - und was sie über uns verraten".

Sind Bestseller wirklich Bücher, die aus Liebe gekauft (und vor allem gelesen) werden? Oder nicht doch eher aus einer Art Gruppenzwang heraus, was zumindest den Wir-Erzähler rechtfertigen würden. Denn ...

... wir sind enthalten in den Büchern, die wir liebten, und die Bücher sind ein Teil von uns. Das gilt für uns als Individuen genauso wie für die kollektive Geschichte der Bundesrepublik. Im Phänomen der Bestseller fällt beides zusammen. Jeder von uns ist Teil dieser Geschichte, ob er will oder nicht. Als Leser schreiben wir sie mit.

Bei diesem „Wir“ muss ich allerdings gerade eher an den twitternden Kanye West denken, der letztens mitteilte, ihm würde missfallen, dass er dauernd „I“ schreibt, so dass er diesen Fehler jetzt lieber mit dem in seinem Fall sicherlich noch größenwahnsinnigeren „We“ korrigieren möchte.

Kritisieren könnte man auch noch Magenaus Titelauswahl, die bei allem Umfangsreichtum irgendwo zwischen Julia Enders‘ „Darm mit Charme“ (2014) und Daniel Kehlmanns „Tyll“ (2017) endet. Es fehlt leider ganz klar der erstaunlichste Bestseller der jüngeren Geschichte, Herrndorfs "Tschick".

Dennoch endet „Bestseller“ – wenn man in der richtigen Stimmung für ein bisschen Pathos ist – gut. Im Kapitel "Im Turm, im Dunkel, im Licht" über die DDR-Thematik bei Tellkamp, Ruge und Schulze kommt Magenau zu folgendem Schluss:

Es ist das ewige Spiel mit der Geschichte und der Zeitlosigkeit. "Hundert Jahre Einsamkeit" hieß der Bestseller von Gabriel García Márquez in den achtziger Jahren, als Lateinamerika den Platz der Sehnsüchte besetzte und nicht die bröckelige DDR. Denn darum geht es doch im Leben und im Lesen: zu erfahren, wie wir selber zu denen werden konnten, die wir heute sind. Lesend begeben wir uns auf die Spur dieses rätselhaften Vorgangs, wie sich die Schichten der Geschichte in unserem Bewusstsein ablagern und schließlich das hervorbringen, was wir unser „Ich“ nennen. Das ist etwas ganz und gar Offenes, das im Hallraum der Zeiten steht, und doch sind wir so unverwechselbar wie ich und du. Als Leser erkunden wir unsere Herkünfte und unsere Möglichkeiten. Wir lieben die Bücher, die uns auf dieser Reise begleiten.

Trotzdem steht einem danach erst mal der Sinn nach Bestsellern der alternativeren Sorte und nicht ganz so offiziellen Lesart. Wie den selbst gestalteten und im Eigenverlag herausgegebenen „Reklame“-Band „die cops ham mein handy“:

Der Leipziger Grafiker Lukas Adolphi wurde in Halle von zwei Jugendlichen vor einem Bankautomaten abgezogen. Die Beute: 30 Euro und sein Handy. Ein monatelanges Gerichtsverfahren später kann er zumindest das Handy wieder in der Asservatenkammer abholen. Auf ihm befindet sich ein ungelöschter, na ja, Schatz: die überwiegend amouröse SMS-Korrespondenz des Hallenser Young Thug!

Daraus hat Adolphi das beste gemacht: ein modernes Drama als SMS-Verlauf. Super allein schon die Hauptdarsteller ("Marco – die Zentralfigur; Toni – ein Kumpel; Paul – noch ein Kumpel; Jana – Marcos Ex-Freundin; Anne – Marcos neue Freundin; Lara – eine Freundin mit gewissen Vorzügen; Maria – noch eine Freundin mit gewissen Vorzügen …") und das Glossar ("ild – ich liebe dich; ida – ich dich auch …"). Und dann geht der Dialog folgendermaßen ab:

Maria: "Seh ich dolle scheißeaus mit brille? … haste jetzt also schluss gemacht. … Kuss"

Marco an Maria: „Ne geht schon … Muss man sich dran gewohnen. Ja hab schluss gemacht. kein bock.kuss“

Maria: "Lol. … wie geil. XD"

YORO – you only read once (bestellbar unter www.lukasadolphi.com)!

Nicht ganz so authentisch geht es leider im "Asozialen Guide für Germany" der beiden Youtuber Ost Boys, die neulich von Moritz von Uslar zu höheren Feuilleton-Weihen in der ZEIT kamen. Neugierig geworden wegen des neuen Bestseller-Trends Youtuber machen in Bücher (wie ein Fan des Spiegel-Bestellerlisten-Surfers Paluten so rührend über dessen "Schmahamas-Verschwörung" meinte: "Toll, da hab ich was, was bleibt!") hab ich mir deren Buch bestellt.

Leider (oder vorhersehbar) ein lieblos zusammencollagierter Totalflop, der sich im Grunde in folgender Klappentexterei erschöpft:

Willst du als Garnele leben oder etwas erreichen, du Lappen? Dann hör auf die Ost Boys aus Marzahn und lern endlich, Alpha zu sein! Papa Slavik zeigt dir Arbeitsamt-Bizne$$ und Tricks für Spielothek. Und weil Wadik Chef ist, erklärt er dir, wie du auf jeder Party zum Hirsch wirst. Für ein geiles Leben lernst du Life Hacks, Tanzmoves, Schnorrespflege, Schwarzfahren und Fetzen.

Also nutz die Chance: Reiß dich aus dem Lauchfeld und verwandle dich in weißen Porsche Cayenne mit Vollausstattung – dann bekommst du viele Fötzchen! Und Mädchen: Euch hilft dieses Buch, den Mr. Grey aus der Platte zu fangen und vor allem zu behalten!

Kauf dir dieses Buch, Bäbah. Weil ich das gesagt habe!

Das sind die schmalbrüstigen Anti-PC-Sprüchlein, die dann auf sparsamen 90 Seiten mehr oder weniger variiert werden. Vor allem funktioniert das schöne Deutsch-Russisch der Youtuber, das in den Filmchen so gut rüberkommt, als vollkommen lahme, brave Buchsprache komplett nicht.

Wenn schon einfache Sprache, dann lieber wieder die Klassiker, wie der Verlag Spaß am Lesen sie in verdienstvoller Regelmäßigkeit auf den Markt bringt. Zuletzt hat Clemens Wojaczek gerade die „Erzählungen von Hermann Hesse“ sehr schön vereinfacht.

Vor allem die Erzählung „Das erste Abenteuer“ hat mir – in einem mehr als nur Bad Writing-Sinne! – so gut gefallen, dass ich sie meinem Kumpel aus dem Angelladen vorgelesen hab:

Das erste Abenteuer

Letzte Nacht habe ich schlecht geschlafen. Ich lag wach und dachte zurück an meine jungen Jahre. Ich habe an meine Lehrlings-Zeit gedacht. Damals war ich 18 Jahre alt. Ich lernte Maschinen-Schlosser.

Meine Ausbildung war fast zu Ende. Aber ich war nicht glücklich. Diese Arbeit machte mir keinen Spaß mehr. Mein Vater wusste davon noch nichts.

In meiner Werkstatt arbeitete ein Volontär. Seine Tante war Witwe. Ihr Mann war Fabrik-Besitzer gewesen. Jetzt wohnte sie in der Nachbarstadt in einer kleinen Villa. Sie hatte einen schicken Wagen und ein Pferd. Sie war recht eingebildet. Die Leute sprachen nicht gut über sie.

Manchmal besuchte sie ihren Neffen in der Werkstatt. Er zeigte ihr alle Maschinen. Sie trug feine Kleider und war so schön wie eine Prinzessin. Wir Lehrlinge standen nur herum. Schmutzig und mit Öl verschmiert.

Eines Tages kam der Volontär und sagte: "Willst du am Sonntag zu meiner Tante mitkommen? Sie hat uns eingeladen."

Ich konnte das nicht glauben. Denn ich war Sozialdemokrat. Was sollte denn ein Sozialdemokrat bei so einer feinen Dame? Trotzdem sagte ich zu.

Ich war aufgeregt und ängstlich. Was soll ich bloß mit der Frau reden? Wie sollte ich mich benehmen? Mein guter Anzug war mir plötzlich nicht mehr gut genug. Ich schämte mich dafür. Meine Schuhe und die Krawatte fand ich schick. Und den neuen Zwicker, meine kleine Brille. Das war aber zu wenig.

Am Sonntagabend machte ich mich voller Aufregung mit dem Volontär auf den Weg. Wir gingen durch den Garten und läuteten an der Tür der Villa. Ein hochnäsiger Diener öffnete. Er machte mich unsicher. Ängstlich betrachtete ich meine Hände: Sie waren sauber, kein Schmutz der Werkstatt mehr daran. Aber es hatte lange gedauert, sie zu putzen.

Die Tante trug ein einfaches Sommerkleid. Sie sagte: "Das Abendessen ist gleich fertig." Dann sah sie auf meinen Zwicker und fragte: "Sind Sie kurzsichtig?“

"Ja, etwas."

„Schade, der Zwicker steht Ihnen nicht", meinte die Tante. Und schon steckte ich den Zwicker in die Tasche.

"Und Sie sind Sozialdemokrat?", fragte sie.

"Ja, aus Überzeugung."

"Ach so. Aber Ihre rote Krawatte ist wirklich nett. Nun wollen wir essen."

Es gab Suppe, Braten, Gemüse, Salat und Kuchen. Die Dame schenkte uns Wein ein. Die guten Speisen und der Wein schmeckten mir. Meine Aufregung legte sich. Ich fühlte mich wohl.

Nach dem Essen saßen wir im Salon. Man bot mir eine Zigarre an. Jetzt fühlte ich mich richtig behaglich. Darum traute ich mich auch, die Dame anzusehen: Sie war so fein und schön. Ich hatte das Gefühl, in einer besseren Welt gelandet zu sein.

Wir unterhielten uns lebhaft. Auch über Politik. Die Dame sagte lächelnd: "Bleiben Sie nur Sozialdemokrat. Aber dann dürfen Sie Ihre rote Krawatte nicht so schief binden. Ich werde sie gerade richten."

Sie fasste meine Krawatte mit beiden Händen. Plötzlich schob sie zwei Finger in mein Hemd, zwischen den Knöpfen. Sie berührte meine Brust. Ich erschrak. Sie sah mir direkt in die Augen.

"Oh, Donnerwetter", dachte ich. Mein Herz klopfte heftig. Sie sah mich ernst an und nickte. Dann bat sie ihren Neffen, den Volontär: "Hol doch bitte von oben den Spielkasten."

Er ging, und die Dame kam auf mich zu. "Du bist lieb", sagte sie und küsste mich. Ich drückte sie an mich. Ihre Augen schimmerten.

Der Volontär kam zurück. Wir setzten uns und machten ein Würfelspiel. Die Dame scherzte viel. Aber ich war nervös. Ich konnte kaum atmen. Manchmal legte sie unter dem Tisch die Hand auf mein Knie. Oder griff heimlich nach meiner Hand.

Um zehn Uhr sagte der Volontär: "Wir müssen nun wieder gehen. Der Zug nach Hause fährt bald."

Die Dame sah mich an und sagte: "Wollen Sie wirklich auch schon fort?"

Ich stotterte "J-ja, es ist Zeit."

Damals hatte ich keine Ahnung von der Liebe. Oder was die Dame wohl von mir erwartete. An der Tür hielt sie mich zurück. Flüsterte mir zu: "Sei doch gescheit …"

Auch das verstand ich nicht.

Wir verabschiedeten uns und rannten zum Bahnhof. Der Volontär stieg in den Zug. Aber ich überlegte es mir anders. Ich wollte allein sein. Also lief ich den weiten Weg zu Fuß nach Hause.

Ich dachte bei mir: "Eine vornehme Dame hat mich lieb." Meine politischen Ansichten waren vergessen. Ich war ganz verwirrt. Aber es machte mich auch stolz.

Am nächsten Sonntag war der Volontär wieder eingeladen. Ich nicht. Die Dame kam auch nicht mehr in die Werkstatt.

Ich ging oft noch an dem Garten vorbei. Und sah durch das Gitter zur Villa. Und dachte: "Aber sie hat mich doch lieb." Einmal hörte ich das Klavier spielen. Da weinte ich.

Nie mehr habe ich die Dame gesehen. Nie mehr habe ich ihre Hand gespürt. Nur im Traum.

Bald darauf beendete ich meine Ausbildung in der Schlosserei. Und fuhr weit weg in eine andere Stadt.

Der Angelladenbesitzer war erst ein bisschen sauer, ob ich ihm nur einfache Sprache zutrauen würde. Dann musste er aber auch zugeben, dass die Erzählung super war, vor allem, weil sie nostalgisch von der alten Tante SPD handelte. Ich hätte es höchstens ein bisschen besser vorlesen können.

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