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Literatur

Beim Lesen von Tolstoi

Beim Lesen von Tolstoi

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtDienstag, 30.04.2019

"Dolochow war mittelgroß, hatte krauses Haar und helle, blaue Augen."

Wieviele Seiten habe ich heute eigentlich schon geschafft? Vorhin waren es 45, nochmal zählen: 46, 47, 48, 49. Noch eine Seite, dann hab ich heute 50!

"Dolochow war mittelgroß, hatte krauses Haar und helle, blaue Augen."

Wieviele Seiten hat denn das Buch? Mal gucken ... 872! Die Anmerkungen zähle ich mal nicht mit. Und der zweite Band? Das waren ca. 850. Macht 1722. Wenn ich jeden Tag 50 Seiten lese, bin ich in 34 Tagen durch. Das wäre dann also am 4.Juni.

 "Dolochow war mittelgroß, hatte krauses Haar und helle, blaue Augen. Er war fünfundzwanzig Jahre alt."

25 Jahre, hach, da war ich gerade ein Jahr in Frankreich. Da lag noch alles vor mir, das ganze Leben. Was habe ich seitdem eigentlich gemacht? 25 Jahre, das macht mich jetzt ganz traurig. Und damals dachte ich ja auch schon, daß ich so alt bin. Und nochmal 15 Jahre früher war ich 10. Mein Gott, die Zeit! Noch eine Seite, dann hab ich für heute 50 Seiten, dann muß ich mir wenigstens heute keine Vorwürfe machen. Ab jetzt muß ich einfach jeden Tag 50 Seiten Weltliteratur lesen, dann muß ich mich am Ende nicht ärgern, daß ich mein Leben verschwendet habe.

"Dolochow war mittelgroß, hatte krauses Haar und helle, blaue Augen. Er war fünfundzwanzig Jahre alt."

Ich kann mich nicht richtig konzentrieren, obwohl mich gerade gar nichts stört. Der Stuhl ist bequem, ich bin ausgeschlafen, ich bin allein im Raum und hab noch eine Stunde, bevor ich losmuß, die Kissen im Rücken sind genau richtig groß und weich, ich hab keinen Hunger und muß nicht auf die Toilette. Meine Freundin ist gerade nicht sauer auf mich, ich habe ihr sogar vorhin ganz außer der Reihe eine zusätzliche SMS geschrieben. Alles ist perfekt, aber gerade deshalb kann ich mich nicht konzentrieren. Diese Zwangsvorstellung, daß ich vielleicht nie wieder im Leben eine Seite zu Ende zu lesen schaffe, wenn ich die hier nicht schaffe. Ach, was heißt eine Seite? Einen Satz!

"Dolochow war mittelgroß, hatte krauses Haar und helle, blaue Augen. Er war fünfundzwanzig Jahre alt. Er trug, wie alle Infanterieoffiziere, keinen Schnurrbart, und so war sein Mund, der am meisten auffallende Teil seines Gesichts, besonders deutlich zu sehen."

Das dauert so lange, weil ich beim Lesen immer mitspreche, man müßte sich das endlich mal abgewöhnen, selbst wenn ich nur mit den Zähnen aneinandertippe bei jeder Silbe: dididi di dididiii didi dii dii di didi didi diiidi. Di di dididididiididiii. Di dii di didi dididididididiidii didi ... Wieso tragen Infanterieoffiziere keinen Schnurrbart? Ist das für die verboten? Infanterie, Kavallerie, Artillerie? Kavallerie ist klar, das Wort kommt sicher von "Pferd". Aber Infanterie? Und Artillerie? Ist das französisch: "Nous artillerons, vous artillerez"? Ich muß das mal nachgucken, sonst läßt einen irgendwann im Leben mal wer auflaufen. Wenn ich mal ein wichtiger deutscher Intellektueller werden will, muß ich vorher solche Bildungslücken schließen.

 "Dolochow war mittelgroß, hatte krauses Haar und helle, blaue Augen. Er war fünfundzwanzig Jahre alt. Er trug, wie alle Infanterieoffiziere, keinen Schnurrbart, und so war sein Mund, der am meisten auffallende Teil seines Gesichts, besonders deutlich zu sehen."

Also gut, krauses Haar, das ist wahrscheinlich sowas wie Locken. Blaue Augen, da stelle ich mir einfach meine eigenen vor, dann weiß ich, was gemeint ist. Und dann einen Infanterieoffizier ohne Schnurrbart. Das Dumme ist, wenn ich ihn mir ohne Schnurrbart vorstellen will, muß ich ihn mir zunächst erstmal mit Schnurrbart vorstellen und mir dann den Schnurrbart wieder wegdenken. Das ist wie verhext, noch eine Seite und ich habe 50 und dann jeden Tag 50 und ich mache mir in 15 Jahren keine Vorwürfe. Man muß einfach die wichtigsten Bücher geschafft haben im Leben. Was habe ich denn schon? "Mann ohne Eigenschaften", "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", "Zauberberg", "Brüder Karamasow", "Berlin Alexanderplatz". Warum die wichtigsten Bücher ausgerechnet auch immer die dicksten Bücher sein müssen?

"Dolochow war mittelgroß, hatte krauses Haar und helle, blaue Augen. Er war fünfundzwanzig Jahre alt. Er trug, wie alle Infanterieoffiziere, keinen Schnurrbart, und so war sein Mund, der am meisten auffallende Teil seines Gesichts, besonders deutlich zu sehen. Die Linien dieses Mundes waren ungewöhnlich fein gezogen."

Die Linien dieses Mundes waren ungewöhnlich fein gezogen. Die Linien dieses Mundes waren ungewöhnlich fein gezogen. Die Linien dieses Mundes waren ungewöhnlich fein gezogen. Mist, jetzt war ich schon wieder weggedämmert, ich bleib immer wieder hängen. Ist die Stelle nicht überflüssig? Oder ist sie im Gegenteil besonders gut, und ich sollte sie anstreichen? Die Linien dieses Mundes waren ungewöhnlich fein gezogen. Was sind denn die Linien eines Mundes? Und wieso ungewöhnlich fein? Wie soll denn das aussehen? Ach, da steht ja noch Genaueres: "Die Oberlippe senkte sich in der Mitte wie ein spitz zulaufender Keil auf die kräftige Unterlippe herab, was dem Munde einen Ausdruck von Energie verlieh ..." Ich muß mir das irgendwie vorstellen, sonst kann ich nicht weiterlesen. Warum haben die denn da kein Bild abgedruckt, das wäre doch viel einfacher. Die Oberlippe senkt sich also auf die kräftige Unterlippe herab, das sehe ich genau vor mir, Oberlippe und Unterlippe. Die Unterlippe ist immer etwas dicker, anders als beim Brötchen.

"Dolochow war mittelgroß, hatte krauses Haar und helle, blaue Augen. Er war fünfundzwanzig Jahre alt. Er trug, wie alle Infanterieoffiziere, keinen Schnurrbart, und so war sein Mund, der am meisten auffallende Teil seines Gesichts, besonders deutlich zu sehen. Die Linien dieses Mundes waren ungewöhnlich fein gezogen. Die Oberlippe senkte sich in der Mitte wie ein spitz zulaufender Keil auf die kräftige Unterlippe herab, was dem Munde einen Ausdruck von Energie verlieh und in den Mundwinkeln bildete sich beständig so etwas wie ein zwiefaches Lächeln, auf jeder Seite eins."

Ich esse gar keine Brötchen mehr, zuviel Weizenmehl, das macht nur hungrig. Da kann man auch gleich Kandiszucker lutschen. Ein zwiefaches Lächeln, auf jeder Seite eins? Die Stelle hätte ich auf Russisch sicher nicht verstanden, was ist denn ein zwiefaches Lächeln? Meint er jetzt zwei Lächeln am selben Mund? "Und alles das zusammen, besonders aber die Verbindung mit dem festen, kecken und klugen Blick, war so eindrucksvoll, daß man dieses Gesicht unmöglich übersehen konnte." Geschafft! Jetzt weiß ich, wie Dolochow aussieht, ganz kurz hab ich es auch vor mir gesehen, das Bild muß ich mir nur merken. Die Seite ist auch fast zu Ende, noch ein paar Zeilen, dann muß ich mir für heute nichts mehr vorwerfen, der Tag ist nicht ungenutzt vergangen. Hoffentlich wird nicht so bald wieder jemand beschrieben.

"Voran gingen der Graf und Marja Dmitrijewna, dann folgte die Gräfin, die der Husarenoberst führte, der für Rostows insofern von Wichtigkeit war, als Nikolai mit ihm seinem Regiment nachreisen sollte. Anna Michailowna wurde von Schinschin geführt. Berg reichte Wera den Arm. Die glücklich lächelnde Julie Karagina ging mit Nikolai zu Tisch. Hinter ihnen kamen, eine lange Reihe durch den ganzen Saal bildend, die anderen Paare und zum Schluß einzeln die Kinder, die Erzieher und Gouvernanten."

Voran gingen der Graf und Marja Dmitrijewna, dann folgte die Gräfin, die der Husarenoberst führte, Nikolai, Julia Karagina, Paare, Kinder, Erzieher und Gouvernanten, aber voran gingen der Graf und Marja Dmitrijewna. Dmitrijewna, nicht Dimitrijewna! Anna Michailowna wird von Schinschin geführt, aber voran gingen der Graf und Marja Dmitrijewna, voran ging der Graf, voran, ging der Graf, voran, voran, voran

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Kommentare 1
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 5 Jahre

    Ja. Die Zwänge die wir uns selbst setzen... Ich trickse da immer: Weltliteraten ja - aber dann eben von Tolstoi die Kurzgeschichten :-)

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