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Als Karla zur Beerdigung ihrer Großmutter in ihre Heimatstadt kommt, hat sie offenbar alle Zelte hinter sich abgebrochen, um auswärts zu studieren. Sie versteht die Rede des armenischen Priesters während der Trauerfeier nicht und der Kontakt zu ihrer Lieblingscousine Nisa ist seit langem abgekühlt. Als 15-Jährige waren die Mädchen allerbeste Freundinnen. Karla musste als Kind ständig Fremden erklären, wie man ihren Namen ausspricht und warum sie ihrem Vater kaum ähnlich sieht. Warum Vater Avi kein Türkisch spricht, obwohl er wie Onkel Ismail aus Istanbul stammt, hätte sie selbst zu gern gewusst. Avi weicht ihren Fragen stets aus. Sicher hat Karla sich gefragt, warum Großmutter Maryam allein nach Bremen kam, um in der Fabrik zu arbeiten, und was aus Avis Vater geworden sein kann. Die klassische Situation entsteht, in der Kinder verletzt reagieren, weil ihnen nichts gesagt wurde und Eltern später ebenso verletzt kritisieren könnten, dass sich für ihre Kindheitserinnerungen niemand interessierte.
Nun ist Maryam begraben. Sie hat außer dem Ablauf einer armenischen Beerdigung ihre letzten Wünsche notiert und ihren Nachlass geordnet. Ihre Nachkommen sollen in die armenische Hauptstadt Yerewan reisen und dort einer Lilit Kuyumcyan einen goldenen Armreif übergeben. Avi hatte Reisen in die Türkei oder nach Armenien stets abgelehnt; ihre eigene Reise nach Istanbul vor einiger Zeit hat Karla ihrem Vater verheimlicht. Doch nun schnürt Avi auf einmal seine Schuhe und beide starten zur Suche nach Lilit. Auch wenn Avis Armenisch eingerostet ist, bewegt er sich in Yerewan wie ein Fisch im Wasser, als hätte er niemals woanders gelebt. Inzwischen erfahren Laura Cwiertnias Leser/innen mit Blick auf wechselnde Figuren, wie Karlas Kindheit in einem Hochausviertel verlief, warum Avi einige Jahre in einem Kloster in Jerusalem verbrachte und was die vom Völkermord traumatisierten armenischen Familien besonders ihren Töchtern einbläuten. Mehrmals habe ich mir gewünscht, dass Maryam wenigstens mit ihrer Enkelin darüber gesprochen hätte, wenn schon nicht mit Avi, dessen Verhältnis zu seiner Mutter durch seine Ehe mit einer Deutschen nicht gerade innig war. Als Vater und Tochter am Ende Lilits Enkelin aufspüren und die Bedeutung des Armreifs begreifen, ist in Rückblenden und Perspektivwechseln die Geschichte von vier Generationen erzählt worden, die stets unverfängliche Namen für ihre Kinder wählten, unauffällig lebten und niemals Gespräche über Politik, Religion oder das Militär führten. Dass man sich auf der Straße anders rufen lässt als zu Hause, erhielt so eine völlig andere Bedeutung als ich erwartet hatte.
Meryam gehörte zur ersten Einwanderer-Generation in Deutschland, die ursprünglich nach Ablauf ihres Arbeitsvertrags wieder in ihre Heimat zurückkehren sollte. Laura Cwiertnia erzählt so bildhaft wie warmherzig über vier Generationen von Armeniern aus der heutigen Türkei, die stets einen Tick vorsichtiger und zurückhaltender sein mussten als andere Einwanderer und auf deren Frauen zusätzlich die Erwartung lastete „einen von uns“ heiraten zu müssen. „Auf der Straße heißen wir anders“ ist auf bestem Weg, ein Buch des Jahres zu werden …
Eine Rezension von Buchdoktor aus der yourbook.shop-Community.
Quelle: Laura Cwiertnia Bild: Klett Cotta yourbook.shop
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