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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Weil Neuerscheinungen mich überfordern und der Berg von Alterscheinungen kaum abzuarbeiten ist, widme ich mich manchmal lieber dem Bücherabfall, der in Bücherkisten auf der Straße landet, der also unter dem Vorwand, etwas zu verschenken, weggeworfen wurde. Es ist nicht unbedingt große Literatur, was man hier findet, bzw. die große Literatur nehme ich gar nicht mit, sondern Bücher, von denen man noch nie gehört hat und die vollkommen vergessen scheinen. Bei Büchern weiß man ja leider erst nach der Lektüre, ob sich die Lektüre lohnt, und der scheinbare Schrott macht mich besonders neugierig. Vielleicht macht man ja eine Entdeckung und kann zu einer Wiederauferstehung beitragen? Für einen eventuellen Ostseeurlaub hatte ich mir aus einer Kiste "Der Mann auf dem Kirr" von Fritz Meyer-Scharffenberg gesichert, erschienen 1969 im Buchverlag Der Morgen und in meiner Ausgabe von 1976 schon in der 4. Auflage gedruckt. Vom Autor hatte ich noch nie gehört, aber ich war schon einmal auf dem Darß und vielleicht ließ sich ja hier etwas über die jüngere Vergangenheit dieser heute doch ziemlich vom Tourismus gezeichneten Region erfahren.
Das Buch ist der Bericht über einen Sommer, den der Autor auf dem Großen Kirr verbracht hat, einer, bis auf ein kleines Ferienobjekt, unbewohnten Darß-Insel, wo er 1967 von einer LPG als Weidemeister eingestellt worden war, um eine Rinderherde zu hüten. Mich sprach natürlich sofort die mir bisher unbekannte Nische "Weidemeister" an. In der DDR gab es so viele Nischen, daß es schon einen "Atlas der Nischen" geben müßte, immer wieder höre ich von neuen Nischen, in denen jemand versucht hat, "unter dem Radar" zu leben. Ob als Schriftenmaler in einem volkseigenen Betrieb, als Friedhofsgärtner bei der Kirche, als Heizer im Kindergarten, als Pförtner bei der Akademie der Künste, als Kellner auf Hiddensee oder wie der hier von mir gepriesene Jan Faktor als Lastenträger in der Hohen Tatra, es ging immer darum, dem juristisch relevanten Vorwurf der asozialen Lebensführung zu entgehen und eine Arbeit nachweisen zu können, die möglichst wenig Zeit kostete, Zugang zu begehrten Tauschmaterialien verschaffte oder vielleicht sogar eine Art Selbstverwirklichung abseits der politischen Realität der Gesellschaft erlaubte.
Als Autor ist man ebenfalls immer auf Nischensuche, weil man jeden Ort automatisch auf seine Eignung als Schreibort abscannt. Wenn man erst den perfekten Ort zum Schreiben gefunden hätte, würden sich die Texte von alleine schreiben, so denkt man sich das manchmal, obwohl man weiß, daß man eigentlich nur an unperfekten Orten schreiben kann und auch nie das, was man eigentlich schreiben müßte. Ein Jahr als Leuchtturmwärter in der Bretagne, Hilfsförster in Kanada, Koch in einer unterirdischen Forschungsstation in der Antarktis, eine Mönchszelle in einem tibetanischen Kloster, Wittgensteins Hütte in Norwegen, warum richtet Berlin keine Schreibresidenz in der Kugel des Berliner Fernsehturms ein? Der perfekte Schreibort hat auffällig oft etwas von einem Gefängnis, es soll nämlich nicht nur kein Besuch kommen, man selbst darf auch nicht so leicht weg können.
Auch Meyer-Scharffenberg hatte offenbar die Hoffnung, auf dem Großen Kirr (3,5 km mal 1,5 km) schreiben zu können, Papier und Schreibmaschine hatte er mitgenommen, aber am Ende hatte er viel zu viel mit den Rindern zu tun und es reichte nur zum Tagebuch. Der Deal klingt verführerisch, er bekommt ein kleines Boot, mit dem er vom Darß auf den Großen Kirr rudern kann, dort verbringen 1000 Rinder den Sommer im Freien und haben reichlich Gras zum Weiden. Er muß lediglich manchmal zur Kontrolle die Insel abreiten (endlich wieder reiten!) und nachsehen, ob sich ein Tier den Fuß verstaucht hat. Mittags kann er übersetzen und in der LPG-Kantine essen und bekommt gleich noch Abendbrot und Frühstück eingepackt. Das Gehöft, das er beziehen darf, ist zu diesem Zeitpunkt verlassen:
"Ein grasüberwachsener Pfad, zu beiden Seiten verschilfte Tümpel. [..] Der Pfad mündet in einen Hof. Der Hof ist eingefaßt von einem windschiefen Schuppen, von einer ungewöhnlich großen Scheune mit einem Loch im Rohrdach, aus dem die Dachsparren wie gebleichte Rippen blicken, und von einem bescheidenen Wohnhaus; darüber breitkronige Linden, dahinter ein völlig verwilderter Garten mit uralten Pflaumenbäumen. Mitten auf dem Hof rosten ausgediente Geräte und Maschinenteile vorsintflutlicher Modelle. Eichene Koppelpfosten, morsche Bretter, Mauersteine, Eimer und Töpfe liegen wahllos verstreut herum und warten, daß Brennesseln und Disteln sie pietätvoll überwuchern. Das breite Scheunentor hängt nur noch in einer Angel. Der Brunnen davor ist versiegt und zugeschüttet worden, als eine von Barth über den Kirr führende Wasserleitung ihn überflüssig machte. Umgürtet wird alles von einem Deich, und dahinter dehnt sich die weite Salzgrasweide."
Die Vormieterin hatte nur noch ein Bein und hat sich einen Hocker zimmern lassen, den sie sich am Gesäß festbinden konnte, um so die Treppe zum Boden hinaufhopsen zu können, nachts hört er sie spuken. Eine der ersten Handlungen ist der Auftrieb der Tiere auf die Insel:
"Ein Prahm, der längsseits an Käpten Grüns Kutter befestigt wurde, brachte die Sterken schubweise hinüber. Vorher versuchten wir es ohne Prahm, trieben die erste ins Wasser, drückten den Rest nach und hofften, die ganze Herde schwimmend hinüberzubringen. Kaum waren die ersten ein Stück im Strom, da machten sie kehrt und zogen einen Kreis. Immer mehr sprangen hinein, so daß der Kreis schnell gefüllt war und einer gewaltigen rotierenden Scheibe aus Tierleibern glich. Kein Tier brach aus, immer im wild sich drehenden Kreis! Ein infernalisches Bild. Es verschlug mir die Sprache: die starren Augen ohne Blickrichtung, das Schnauben im schäumenden Wasser, die drohenden Hörner, das Dichtandicht der kreisenden Leiber; man hätte auf ihnen stehen können. Endlich bekamen einige Grund unter die Füße. Blitzschnell schoß die schwarzweiße Masse wie ein riesiges Seeungeheuer an Land. Da standen sie, triefend und blank."
Wie so viele DDR-Autoren kennt sich Meyer-Scharffenberg beneidenswert gut mit Botanik und Vogelwelt aus und schreibt sehr detailliert über Spieß-, Krick, Knäck- und Löffelenten. Ich habe immer den Verdacht, daß diese Naturverbundenheit auch eine Nische war, denn über Tiere konnte man halbwegs unzensiert schreiben. Wobei Meyer-Scharffenberg kein Geheimnis daraus macht, wie einverstanden er mit der Arbeiter- und Bauernmacht ist. (Interessant, bei seinem Lebenslauf: im Zweiten Weltkrieg sechs Jahre Soldat, amerikanische Kriegsgefangenschaft, sechs Jahre Haft nach Verurteilung durch ein sowjetisches Militärtribunal.)
Die Sterken (so heißen anscheinend jungfräuliche Kühe, man könnte auch Färsen sagen) reißen regelmäßig den brüchigen Drahtzaun um das Gehöft ein und erscheinen nachts auf seinem Hof, wo sie alles mit Fladen versehen, die für Fliegen sorgen. Seine Pferde nutzen die Gelegenheit und machen sich davon, so daß er sie immer wieder mühsam einfangen muß (er ist zu diesem Zeitpunkt immerhin schon Mitte 50). Er muß auch den Zaun ständig flicken, nicht mal ein Elektrozaun hilft auf Dauer. Später brechen Krankheiten aus und die kranken Tiere müssen abgesondert und behandelt werden. Er unterhält sich mit einem Vogelkundler, der ihm erklärt, warum es fatal wäre, die Rinderzucht auf der Insel zu intensivieren, da es sich um eines der wenigen Ostsee-Brutgebiete verschiedenster seltener Vögel handelt ("Mich dagegen beruhigt es, daß der Naturschutz bei uns verfassungsmäßig verankert ist", schreibt er allen Ernstes.) Er muß eine schiffbrüchige Paddlerin aufnehmen (er bietet ihr seine Unterhosen an, sie könne sie ja andersherum anziehen, wenn es ihr nichts ausmache), er muß sich mit Pflaumendieben beschäftigen (die auf dem von Salzgras bedeckten Boden wachsenden Pflaumen gelten in der Gegend als Aphrodisiakum.) Er geht zu Leitungssitzungen der LPG, in denen über die Graswirtschaft doziert wird: es gibt "Knaulgras, Wiesenlischgras, Weißstraußgras, Welsches Weidelgras, Deutsches Weidelgras, Weißklee, Schwedenklee, Lembkes Rotklee, Merkuriklee. Achtzehn wichtige Gräserarten muß ein Grünlandwirt kennen." Und er fragt sich insgeheim doch manchmal, ob andere nicht mehr erleben, wenn sie in der Zeit, die er auf der Kuhkoppel verbringt, das Mittelmeer bereisen. Aber er wird auch vielfach entschädigt, durch die körperlich anstrengende, aber als sinnvoll empfundene Arbeit, durch die Einsamkeit in der Natur, durch das Reiten und durch die Begegnung mit den LPG-Mitarbeitern, die alle derb, aber herzensgut sind, und die ihre Arbeit und einen kräftigen Schluck lieben. Von einem Pflüger schreibt er: "Er erhielt eine Mittelmeerreise für besondere Leistungen angeboten und lehnte ab, da er eine Gefährdung der Mechanik seiner genau eingetrimmten Maschine befürchtete." Der Herbst kommt, das Wetter wird strenger, Stürme und heftige Gewitter setzen dem Haus zu. Er ist stolz darauf, die Herde über den Sommer gebracht zu haben. Am Ende kommt es bei der Überfahrt der Tiere aufs Festland sogar noch zu einem dramatischen Unfall mit Schiffbruch und tödlichem Ausgang für einen Meister.
Sollte ich jemals von Zingst zum Großen Kirr rüberschauen, werde ich an die Erlebnisse denken, von denen ich jetzt gelesen habe. Ob es dort noch Rinderzucht gibt und ob das Gehöft noch steht? (Auf dem Satellitenbild sieht man Grundmauern ohne Dach und viele Rinder, die den Kampf gegen den Drahtzaun anscheinend endgültig gewonnen haben.) Ich bin froh, das Buch aus der Kiste gerettet zu haben, denn ich habe einiges gelernt:
- daß Hühnerscheiße auf der Haut den Bartwuchs fördert
- daß Malven gewöhnlich dort blühen, wo einst Slawen siedelten. (Sie wurde von ihnen als Küchen- und Arzneipflanze genutzt.)
- daß man in alten Drainagerohren Aale fangen kann
- daß es im Andernacher Stadtteil Namedy von 1929 bis 1931 Zeltlager gab, sogenannte Kinderrepubliken
Dazu kommt eine Menge neuer Wortschatz: marachen, Prahm, Tesching, Borsalbe, Korselett, Konsultationsbetrieb, Komplexbrigade, Grasbülten, Rickettsien, Bellmann (Vorschlaghammer), Seggen, Krammetvogel, Woilach, Bülten, Holsteinsche Euterseuche, "'n Kleinen verknusemantuckeln".
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Tesching kannte ich! Erbte einen aus Schlesien, aber hab ihn verkauft.
Sehr schöner Text...ich hatte mal eine Zeit auf einem verlassenen Hof in Holstein während der Lehre - da hatt es mich grad hingeweht beim Lesen. Aber das war natürlich nicht so romantisch, weil Passat statt Pferd und tausende Hektar Raps statt 1000 Rinder. Aber gespukt hats auch und waschen musste man sich im See.
Wo könnte man eine Salzbodenpflaume herkriegen?