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Fakt ist: Fakten interessieren uns oft nicht

Christian Gesellmann
Autor und Reporter

Geboren 1984 in Zwickau, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Germanistik in Jena und Perugia. Volontariat bei der Tageszeitung Freie Presse, anschließend zweieinhalb Jahre als Redakteur in Zwickau. Lebt als freier Autor in Leipzig und Bukarest. Quoten-Ossi bei Krautreporter.

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Christian GesellmannDienstag, 30.04.2019

Ich verdiene mein Geld mit dem Schreiben von Texten. Dabei ist mir vor Kurzem etwas aufgefallen, das ich lange nicht verarbeiten konnte. Stell dir vor, du schaust neben dich auf deine Freundin, vielleicht fährt sie gerade Auto oder liegt besoffen auf dem Sofa oder pflanzt Blumen. Plötzlich kommt dir dieser Gedanke: Lieb ich die noch? Ich glaub, ich lieb die nicht mehr. Du guckst noch mal hin, prüfend diesmal, in dich hineinhorchend, auf eine Antwort lauernd. Du ziehst die Vergangenheit zu Rate, du suchst nach Zuversicht im Nebel der Zukunft. Du willst alle Zeugen hören, mit jeder Vernehmung wird dein Richterstuhl wackliger, die Robe kratziger, die Luft stickiger, du musst raus, du musst weg. Draußen löst sich die Schicksalsfrage in Luft auf, du schmeißt die Robe weg, du willst nur schnell wieder rein, die Angeklagte umarmen und den Prozess für beendet erklären. 

Bei Texten beginnt der Prozess immer dann, wenn man ihn zum ersten Mal seinem Redakteur/seiner Redakteurin zeigt. Zu Beginn war jede Kritik ein kleiner Weltuntergang für mich. Dann lernte ich, dass meine Wut irrational ist, dass ich mit ein paar Stunden oder Tagen Abstand vielleicht sogar einiges berechtigt finden würde. Vor Kurzem schickte mich wieder ein Redakteur zum Umschreiben eines kompletten Textes und ich sagte: Okay. Es hat mich Null aufgeregt. Der Redakteur war verdutzt. Hallo, bist du noch dran? Seither überlegte ich, ob es vielleicht aus ist mit der Liebe zum Schreiben. Wo ist die Leidenschaft geblieben? 

Dieser Text von Elizabeth Kolbert hat mir ein Urteil erspart. Denn er erklärt ein Phänomen, das wir erst ansatzweise begreifen: Unser Hirn ist nicht gut darin, ALLEIN vernünftige Antworten auf komplexe Fragen zu finden (oder sich zu erinnern). Unser Hirn ist kein Richter. Es ist ein Strafverteidiger, der für seinen Mandanten den Freispruch will. Freispruch von unseren Fehlern. Deshalb müssen wir uns selbst, um Fehler zu verstehen, mehr misstrauen – und anderen mehr vertrauen.  

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