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Das Problem ist nicht neu: Viele erfahren Pflegefachkräfte verlassen nach durchschnittlich siebeneinhalb Jahren ihren Beruf. Zusammen mit dem Nachwuchsmangel führt die Unattraktivität des Berufs zu einem Pflegenotstand in Deutschland. 40.000 bis 100.000 Vollzeitstellen können nicht besetzt werden, so die Schätzungen.
Die Pandemie treibt die Flucht aus der Pflege an. Laut einer Umfrage denken 30 Prozent der befragten Pflegefachkräfte darüber nach, aufzugeben. Die hinlänglich bekannte Erklärung: zu schlechte Arbeitsbedingungen bei zu wenig Geld.
Silke Jäger schreibt: Diese Erklärung greift zu kurz. Über den wahren Grund der Pflegeflucht wird zu wenig gesprochen. Auch deshalb, weil die Dynamik dahinter selbst den Betroffenen oft nicht bewusst ist – geschweige denn den Arbeitgebern oder der Gesellschaft.
Menschen, die in der Medizin arbeiten, fühlen sich also sowohl durch ihr eigenes Wertesystem als auch durch das ihres Berufsstandes moralisch stark verpflichtet, Gutes und Richtiges zu tun und Schaden abzuwenden. Dieses Wertesystem trifft nun in der deutschen Realität auf ein Gesundheitssystem, in dem zum Teil ganz andere Werte im Vordergrund stehen, nämlich materielle. Jede medizinische Leistung wird durch eine Abrechnungsziffer codiert. Nur wenn Krankenhäuser und Praxen diese Codes an Krankenkassen schicken, bekommen sie Geld überwiesen. Das heißt auch: Je mehr Leistungen sie codieren, desto mehr Geld fließt.
Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, sehen sich gezwungen, ihre Werte zu verraten, sowohl ihre individuellen als auch die ihres Berufsstandes. Das verletzt sie auf der moralischen Ebene. Schuldgefühle und Scham sind die Folge.
Thorben Müller, Stationsleiter, will nicht mehr Teil dieses Gesundheitswesens sein.
Jetzt will er kein Pfleger mehr sein, weil das System ihn jeden Tag dazu zwingt, falsch zu handeln: weniger zu tun, als nötig wäre oder etwas nur deswegen zu tun, weil die Klinik es abrechnen kann. Oft muss er dafür seinen Patient:innen und den Kolleg:innen Dinge zumuten, hinter denen er nicht steht.
Niemand kann dauerhaft gegen seine eigenen Überzeugungen arbeiten und dabei gesund bleiben. Moralische Verletzungen sind ein Übergangsphänomen: Die Menschen werden entweder krank, kriegen einen Burnout oder ein posttraumatisches Belastungssyndrom oder sie steigen ganz aus. Das sagt ein Psychiater, der Präventionsseminare für Pflegekräfte anbietet.
Der Präventionsforscher Neil Greenberg vom King's College in London hat am Anfang der Pandemie im British Medical Journal beschrieben, was moralische Verletzungen sind und warum es wichtig ist, die Pflegefachfrauen und -männer auf die Dilemmata vorzubereiten, die sie in der Pandemie erleben werden. Nur so können Arbeitgeber Strategien entwickeln, um dem Personal zu helfen, diese Phase durchzustehen.
In Deutschland gibt es Konzepte, die das leisten. Sie stammen aus der Militärmedizin. Denn moralische Verletzungen sind bei Soldat:innen ein bekanntes Phänomen, dem man zum Beispiel im Bundeswehrkrankenhaus in Berlin mit einer werteorientieren Psychotherapie begegnet. Für das Gros der Pfleger:innen stehen solche Unterstützungsangebote aber nicht zur Verfügung.
Wenn die Gesellschaft in Pflegefachkräften Helden sieht, verschlimmert das die moralischen Verletzungen zusätzlich. Der Heldenmythos trifft auf ein Selbstbild, das durch Schuldgefühle stark belastet ist. Silke Jäger erklärt die dahinterliegende Dynamik ausführlich.
Der Begriff "moralische Verletzung" sollte in der öffentlichen Debatte über den Pflegenotstand eine viel größere Rolle spielen.
Die Fotos im Text hat Günter Valda gemacht. Er arbeitet als Fotograf und Pfleger auf einer Intensivstation in Österreich.
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Quelle: von Silke Jäger Bild: Günter Valda krautreporter.de
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Hier wird mMn auch das grundlegende Problem der Motivation durch Geld gegenüber der Eigenmotivation angesprochen, Arbeit als Ware gegenüber Arbeit als verbindungfördende, als nützlich empfundene Tätigkeit. Das taucht überall auf.
Danke.