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Klarstellung: Über angeblich "geschlossene" Grenzen nach Syrien

Lars Hauch
Researcher. Schwerpunkte: Mittlerer Osten, insbesondere Syrien.
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Lars HauchSonntag, 12.02.2023

Viele Artikel werden aktuell über Syriens Nordwesten geschrieben. Oft oberflächlich, teilweise missverständlich. Der hier ist lesenswert. Gregory Waters berichtet aus Idlib, wo er für Forschungszwecke unterwegs ist.

Unter anderem hat er mit Vertretern der Provinzverwaltung gesprochen. Nach deren Angaben wurden 5.000 Gebäude beschädigt oder zerstört. Insgesamt seien mehr als 30.000 Familien davon betroffen. Seit dem Erdbeben wurden 68 neue Camps für Menschen ohne Bleibe errichtet, in denen 10.000 Familien untergekommen sind. Das Material für diese Camps hat man aus allen Ecken der Provinz zusammen geklaubt. Internationale Hilfe gab es dafür nicht. Die Provinzverwaltung sagt, man brauche dringend Notfallhilfe für die 30.000 Familien. Nahrung, Decken, Zelte, Hygienekits, Heizmöglichkeiten.

Seit Donnerstag, also vier Tage nach dem Beben, haben lediglich 22 UN-Trucks das Gebiet erreicht. Das ist effektiv weniger als die reguläre Hilfe, die Idlib und seine Bewohner auch schon vor dem Erdbeben am Leben hielt.

In den letzten Tagen gab es einige Verwirrung über angeblich geschlossene Grenzen von türkischer Seite. Dazu hier eine kurze Einordnung:

  • Wenn in den Medien von internationaler Hilfe gesprochen wird, geht es um UN-Hilfe. Die UN sind so etwas wie ein gigantischer Organisator. Finanziert von Nationalstaaten stellen UN-Organisationen vom Einkauf bis zur Lieferung alles Nötige auf die Beine. Teil dieses Komplexes sind auch viele NGOs, die von der UN logistisch und anderweitig unterstützt werden.
  • In den vergangenen Jahren haben so jeden Monat rund 1.000 Trucks Idlib erreicht. Dafür haben sie den Grenzübergang Bab al-Hawa benutzt. Dieser Grenzübergang ist für UN-Hilfe autorisiert. Das heißt, dass internationale Hilfe über diesen Grenzübergang transportiert und verteilt werden darf, ohne dass das Assad-Regime unmittelbar seine Finger im Spiel hat. Darauf hat sich der UN-Sicherheitsrat im Jahr 2014 geeinigt, weil das Regime systematisch Oppositionsgebiete ausgehungert hat und humanitäre Hilfe stiehlt. Ein solches Mandat vom Sicherheitsrat braucht es, weil die sogenannte Crossborder-Hilfe genau genommen die Souveränität von Staaten untergräbt. Es gibt dazu auch andere rechtliche Auffassungen, die haben sich bisher jedoch nicht durchgesetzt.
  • Zeitweise gab es vier dieser autorisierten Grenzübergänge. Seit 2021 hat Russland die Schließung von drei Stück erzwungen, sodass heute nur noch Bab al-Hawa übrig ist. Bab al-Hawa benutzt Russland seitdem als Druckmittel, um dem Westen Zugeständnisse abzuringen. Insgesamt geht es Russland darum, dass die UN-Hilfe komplett aus Damaskus, d. h. in Koordination mit dem Assad-Regime, verteilt werden soll. Kontrolle über humanitäre Hilfe ist nun mal ein immenser Macht- und Geldfaktor, und die UN sind leider nicht in der Lage, Neutralität zu gewährleisten.
  • Als nun die Erde bebte, war das Chaos groß. Viele der UN-MitarbeiterInnen in Syrien als auch in der Türkei waren selbst betroffen, Straßen beschädigt, und so weiter. Was genau passiert ist, gilt es aufzuarbeiten. Auf jeden Fall blieben die Trucks stehen. Sind deshalb die UN der große Buhmann? Kritik ist auf jeden Fall angebracht. Die UN-Organisationen haben wenig Flexibilität gezeigt und auf etablierte Kanäle gesetzt, anstatt dynamisch nach Alternativen zu suchen. Die Bürokratie war überfordert. Gleichzeitig entbindet das die Nationalstaaten aber nicht von ihrer Verantwortung. Ganz im Gegenteil.
  • Die Nationalstaaten können auch ohne die UN humanitäre Hilfe leisten. Praktisch heißt das, sie können in Absprache mit der Türkei jeden Grenzübergang nutzen. Das ist logistisch nicht einfach, weil das UN-System seit Jahren etabliert ist und es hier um enorme Dimensionen geht. Unmöglich ist es allerdings auch nicht. Nachdem Russland 2021 angefangen hat, die Autorisierung für UN-Grenzübergänge zu torpedieren, hat die EU vorsorglich Alternativpläne erarbeitet. Die liegen mehr oder weniger fertig in den Schubladen in Brüssel. Konkret heißt das, man arbeitet einfach direkt mit den NGOs zusammen. Länder wie Saudi Arabien, Kuwait und Katar haben auf diese Weise in den letzten Tagen bereits Hilfe in Syriens Nordwesten geschafft. Die UN haben nun angekündigt, Hilfsgüter in großem Umfang zu mobilisieren. Erfahrungsgemäß wird das nicht passieren, insbesondere hinsichtlich dringend benötigten schweren Geräts. Und bisher sieht es so aus, als würden die UN einmal mehr dem Druck der Assad-Regierung nachgeben, und dabei Nordwestsyrien hinten anstellen. 
  • Fazit: Niemand hält Deutschland und die EU davon ab, multilaterale Hilfe in großem Stil für Syriens Nordwesten zu organisieren. 
Klarstellung: Über angeblich "geschlossene" Grenzen nach Syrien

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Kommentare 6
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als ein Jahr

    interessant.
    Nur die Formulierung ersten Absatz von den "angeblich" x.ooo zerstören Gebäuden ist mir aufgestoßen - ich gehöre zur 'angeblich - anscheinend - offensichtlich - vorgeblich - scheinbar - vermeintlich'-Fraktion: vermutlich war hier "anscheinend x.ooo zerstörte Gebäude" gemeint? :-)

  2. Hans Wibra
    Hans Wibra · vor mehr als ein Jahr

    Der Bericht berücksichtigt wesentliche Zusammenhänge nicht. Damit wird der Eindruck erzeugt, dass ausschließlich die Regierung von Syrien für die Situation verantwortlich ist für die Probleme in Idlib. Richtig ist aktuell die verhängten Sanktionen das wirkliche Problem sind. Mit der Behauptung, dass "die aktuellen US-Sanktionen die Hilfshilfe für Millionen Syrer stark einschränken", forderte das amerikanisch-arabische Antidiskriminierungskomitee (ADC) die US-Regierung am Montag auf, seine Sanktionen aufzuheben. Während es hieß, dass die NGOs, die vor Ort arbeiten, eine lobenswerte Arbeit leisten, sagte es auch, dass die "Aufhebung der Sanktionen die Türen für zusätzliche und zusätzliche Hilfe öffnen wird, die den Bedürftigen sofortige Hilfe bringen wird".

    Der US-Kongress hatte 2020 den sogenannten Caesar Act verabschiedet, nach dem jede Gruppe oder Firma, die mit der syrischen Regierung Geschäfte macht, mit Sanktionen belegt wird. Das Gesetz erweitert den Geltungsbereich der zuvor bestehenden Sanktionen gegen Syrien, die von den USA und ihren europäischen Verbündeten seit Beginn des Krieges im Land im Jahr 2011 verhängt wurden.

    Die Auswirkungen der Sanktionen auf Syriens Gesundheit und andere soziale Sektoren und seine allgemeine wirtschaftliche Erholung wurden von den Vereinten Nationen in der Vergangenheit mehrfach kritisiert. Die UNO hat auch gefordert, dass alle einseitigen Strafmaßnahmen gegen Syrien aufgehoben werden.

    Unterdessen haben Länder wie China, Iran, Russland, Kuba, Algerien und die Vereinigten Arabischen Emirate unter anderem ihre Bereitschaft bekundet, Syrien die notwendige Unterstützung zu leisten, und haben bereits Hilfsgüter geschickt.
    ich bin kein Freund der Syrischen Regierung - das entbindet mich nicht die Fakten zu sehen und zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass die Region Idlob von Leuten als "Heimat genommen" wurde, die zu den schlimmsten islamistischen Terroristen gehören. Viele de dortigen Bewohner haben diese Region auch deshalb gewählt - sicherlich auch viele nicht, aber wie in Cambodia und in Afghanistan, wird man am Ende für die falschen Freunde bestraft.

    1. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als ein Jahr

      Nun ich hatte auch aufgrund des Titels den HauptTenor des Textes daraufhin verstanden dass eben : Syriens Grenzen nicht geschlossen" sind. .. Wie es ja durchaus mehrheitlich in den Medien zuletzt zu hören war.

    2. Hans Wibra
      Hans Wibra · vor mehr als ein Jahr

      @Cornelia Gliem Das ist richtig, die Grenzen Syriens sind nicht geschlossen, es sind die Sanktionen, die die Grenzen für Produkte und Güter, die die Menschen in Syrien dringend brauchen, geschlossen. Im Prinzip ist dieses Konzept aus der Kolonialzeit übernommen.

    3. Lars Hauch
      Lars Hauch · vor mehr als ein Jahr

      @Hans Wibra Teile der Sanktionen beeinträchtigen in der Tat humanitäre Aktivitäten, meist indirekt. Es handelt sich hier aber lediglich um einen Teilaspekt. Mit dem Ausmaß der ausgebliebenen Hilfeleistung für den Nordwesten nach dem Erdbeben haben Sanktionen nichts zutun.

    4. Hans Wibra
      Hans Wibra · vor mehr als ein Jahr

      @Lars Hauch Das ist einerseits richtig bedeutet aber, konstruktiv langfristig orientiert, dass da Thema Sanktionen international rechtlich verankert werden muss - auch weil dies eine einmalige Chance ist, Regeln fest zu legen, die sich an legitime Kriterien halten werden. Es ist Zeit, der UNO Instrumente und Macht zu erteilen, die eine neue Phase der Konfliktanalyse, Konfliktbehandlung und Konfliktvermeidung ermöglichen. Vielleicht haben wir das in unsere Geschichte schon einmal fast ganz gut gemacht, ich denke hier an den "Westfälischen Frieden".
      Es wird den Imperien nicht so ganz passen, aber es ist allerhöchste Zeit.
      Stattdessen sanktionieren die USA und die Europäische Union weiterhin Syrer, die zu 70 Prozent ihres Landes von der Regierung von Präsident Bashar Assad gehalten werden. Während die westlichen Mächte behaupten, dass Sanktionen Lebensmittel, medizinische Versorgung und humanitäre Hilfe nicht behindern, ist dies eine Lüge. Seit den Kämpfen im Bürgerkrieg und Stellvertreterkrieg 2016-17 ist Syrien durch Sanktionen der Zugang zu Geldern und Material für den Wiederaufbau von Infrastruktur, öffentlichen Gebäuden, Schulen und Krankenhäusern untersagt, die durch Krieg zerstört oder beschädigt wurden. In den letzten drei Jahren haben Sanktionen der Mehrheit der Syrer Treibstoff, lebenswichtige Lebensmittel und lebensrettende Medikamente entzogen, da ausländische Unternehmen aufgrund des US-amerikanischen Caesar Act von 2019, der Einzelpersonen und Organisationen, die mit der Regierung zu tun haben, Angst haben, mit der syrischen Regierung zu verhandeln. Vor dem Beben hatten Entbehrungen 90 Prozent der Syrer unter die Armutsgrenze getrieben.

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