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Flucht und Einwanderung

Religiös sind die Mörder nicht – Islamwissenschaftler Oliver Roy

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergDonnerstag, 17.12.2020
Gestern ergingen die Urteile im "Charlie Hebdo"-Prozess. Da der Anschlag auf das Satiremagazin nicht der letzte seiner Art war und solche Verbrechen auch international für Aufsehen sorgen, ist dieses Interview mit dem Islamwissenschaftler, Regierungs­berater und Terrorismus­experte Olivier Roy aufschlussreich.


Es gehört zum Überzeugendsten, was ich in letzter Zeit dazu las. Der Gelehrte bietet ein Panorama der Gewalttäter mit verblüffenden Ähnlichkeiten und Unterschieden:

Die Mehrheit der Terroristen gehört zur «zweiten Generation», das heisst, es handelt sich um die Kinder muslimischer Eltern, die als Arbeits­migranten nach Europa gekommen sind. Das begann 1995 mit dem Terroristen Khaled Kelkal, der in Lyon aufwuchs, und es reicht bis zur Attacke auf das Bataclan im Jahr 2015, die ebenfalls von Vertretern der zweiten Generation begangen worden ist – nebst ein paar Konvertiten. Eine Seltsamkeit fällt auf: Während 20 Jahren waren es immer Vertreter der zweiten Generation, die zur Tat schritten. Rein chronologisch betrachtet sollten wir jetzt bei den Terroristen der dritten Generation angekommen sein, aber die existieren nicht.

Aber es gab doch Anschläge auch in der jüngsten Vergangenheit von jungen Männern?

Der Anschlag auf den französischen Lehrer Samuel Paty wurde von einem Tschetschenen ausgeführt, in Wien war es ein Albaner aus Nord­mazedonien. Das sind klassische Fälle von radikalisierten Secondos.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird die Rolle der Religion heute unter besonderer Berücksichtigung von Frankreich beleuchtet.

Die heutige Idealvorstellung von Religion ist Yoga. Das kann man in seiner Küche auf einer Matte machen, und man geht damit niemandem auf die Nerven. Diese Haltung nimmt sowohl die öffentliche Meinung als auch die Regierung ein. Allerdings funktioniert das nur in einer vollständig säkularisierten Gesellschaft. Für Frankreich wird das nicht nur mit Bezug auf den Islam zum Problem.

Gerade die Zurückdrängung der Religion in einer eben nicht säkularisierten Gesellschaft, so Oliver Roy, bringt Ungeheuer hervor:

Der Schlüssel zum Terrorismus ist die Dekulturierung.

Die Verlierer und Dekulturalisierten suchen Trost und Halt und jetzt erst kommen IS oder al-Qaida ins Spiel. Diese haben keine theologische Kompetenz, keine kohärente Ideologie, aber sie bieten eine gefährliche große Erzählung, nämlich die

vom Loser, der sich in einen Helden verwandelt, den Propheten rächt und ins Paradies eingeht durch einen Akt der Selbstaufopferung.

Deshalb hält Oliver Roy für entscheidend:

die Entzauberung des islamistischen Helden-Narrativs. Wir dürfen nicht vergessen: Es ist eine Erzählung, die auf gescheiterte Existenzen eine grosse Anziehungs­kraft ausübt.

Aus diesem Grund kritisiert Oliver Roy die Reaktionen des französischen Staats, da diese die Heldengeschichte der Mörder ungewollt stärkt. Wenn etliche Gewalttäter ein Dutzend Menschen umbringen, ist das schlimm, aber kein Land ist deshalb im Krieg. Aber so etwas behaupten Stützen und Spitzen des Staates.

Es hört gar nicht mehr auf mit den Trikoloren auf den Titelseiten, den Schweige­minuten, den Staats­begräbnissen, den Fahnen auf halbmast. Für verwirrte Geister ist das ein extrem verlockendes Angebot, auf die Titel­seite zu kommen.

Oliver Roy Fazit lautet, wenn Entscheidungsträger immer wieder behaupten, es gebe zu viel Religion, ist das eine Fehleinschätzung:

Die Wahrheit ist: Es gibt zu wenig Religion, zu wenig Raum für Religiosität in unseren Gesellschaften. Das fördert die Gewalt.

Und das erläutert er im Gespräch nachdenkenswert.

Religiös sind die Mörder nicht – Islamwissenschaftler Oliver Roy

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