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Flucht und Einwanderung

Gestern & Heute: Warum wir flohen? Krieg nach dem Zerfall der UdSSR

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMittwoch, 02.03.2022

Dieser Krieg ist eine imperiale Gebärde, die genauso von Nikolai I. stammen könnte. Dennoch oder gerade deswegen hätte ich nicht damit gerechnet. In der Retrospektive erscheint es mir ziemlich naiv,

so schreibt Olga Grjasnowa, die 1996 mit ihrer Familie als Kontingentflüchtling nach Hessen kam und sich hier zu einer wichtigen deutschsprachigen Autorin entwickelte. Schon als sie nach dem Zerfall der Sowjetunion in den Neunzigerjahren kam, gab es Gewalt und Zerstörung in einigen Nachfolgestaaten.

Freilich, der Überfall Russlands auf die Ukraine übertrifft die Gewalt der letzten Jahrzehnte – und das trotz der schrecklichen Kriegen in Tschetschenien mit zerbombten Städten.

Ich bin zugleich wütend, enttäuscht, verängstigt und voller Scham, wie fast alle Freund*innen und Bekannten. Niemand von uns konnte in den ersten Tagen arbeiten, sich auf irgendetwas konzentrieren, die Nerven lagen bei allen blank.

Olga Grjasnowa fasst zusammen, welche Konflikte und Kriege immer wieder zu Flucht und Migration führ(t)en und Menschen aus der implodierten Sowjetunion hierher brachten.

Erfreulich ist, dass diesmal die Grenzen geöffnet werden und dennoch stellt die Autorin unangenehme Fragen an das westliche Europa.

Weshalb dürfen die Ukrainer*innen, die in Großbritannien leben, ihre engsten Familienangehörigen nachholen, aber nicht Afghan*innen oder Syrer*innen? Weshalb sollen Menschen im Mittelmeer ertrinken, und weshalb wurden Rettungsaktionen kriminalisiert? Weshalb stimmte man gegen die Aufnahme besonders schutzbedürftiger Asylsuchender aus Griechenland?

Die Autorin leuchtet aber auch in die Familien der postsowjetischen Gemeinden und dabei auch in die eigene:

In vielen unserer Familien wurde nicht über die Vergangenheit geredet, vor allem nicht über eine unbequeme, die nicht konform war. Meine Großmutter hat fast ihr ganzes Leben lang verheimlicht, dass ihr Vater in einem russischen Gefängnis erschossen worden war. Dass ihre Mutter psychisch krank war. Ein andere Verwandter kam ins Straflager, weil er sich »verplappert« hatte. Ich weiß nicht, wie er hieß, und als ich nachfragte, wurde so getan, so ob ich es mir ausgedacht hätte. Aber das, was mein Urgroßvater während der Revolution getan hat, das weiß ich. Vielleicht liege ich falsch, aber ich vermute, dass wir alle eigentlich kaum eine Ahnung von der russischen, der kaukasischen, weißrussischen, ukrainischen, kasachischen, usbekischen, sibirischen, mongolischen und der universellen Geschichte haben.

Ihr Fazit, da hier gesprochen und nachgeforscht werden kann, lautet:

Wir müssen lernen, einander noch besser zuzuhören, uns für unsere Geschichten zu interessieren. Mehr zu lesen. Als ein Zeichen des Respekts. Wir müssen über den russischen Imperialismus und die Unterdrückung der Minderheiten reden. Über Rassismus. Antisemitismus. Über uns. Vor allem müssen wir uns aber darüber im Klaren sein, was wir unseren Kindern beibringen. Und wo dieses Wissen herkommt. Ohne Scham, Angst und Ausreden.

Wer eine Analyse der postsowjetischen Migration lesen will, ist immer noch bei diesem älteren Text gut aufgehoben.

Zur staatlichen Diasporapolitik hingegen gehören Russlands seit den 1990er Jahren zu beobachtende Bemühungen um die Vereinnahmung "seiner" Diaspora im postsowjetischen und zunehmend auch im europäischen Ausland und darüber hinaus. Aus diesem Werben kann man aber nicht zwingend schließen, dass es vonseiten der Emigranten auch erwidert wird, selbst wenn sie an transnationalen Strukturen partizipieren. Dabei ist zu bedenken, dass der Großteil der postsowjetischen Migranten die ehemalige UdSSR nicht als "Russen" verließ, sondern als Angehörige kulturell russifizierter ethnischer Minderheiten.

Allerdings werden die Zahlen durch die Flucht aus der Ukraine; möglicherweise auch durch die Migration aus Russland sich rasant ändern.

Krieg und ökonomische Not waren bislang immer wichtige Motoren für Vertreibung, Flucht und Migration.

Ein erstes Dossier der aktuellen Veränderungen findet man hier, an dem Jannis Panagiotidis, der Autor der Gesamtstudie, mitarbeitete:

Innerhalb der russischsprachigen Communities in Deutschland findet die russische Propaganda weniger Zuspruch als das noch bei der Krim-Annexion 2014 der Fall war, so Journalist Nikolai Klimeniouk und Projektleiter bei der "Initiative Quorum". Menschen mit Bezug zur Ukraine seien in den vergangenen Monaten politisch aktiver geworden, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Anna Litvinenko. Ähnlich wie zu Beginn des Ukraine-Kriegs 2014 würden viele von ihnen ihre Solidarität bekunden, Hilfslieferungen organisieren und an Kundgebungen gegen die russische Aggression teilnehmen.

Gestern & Heute: Warum wir flohen? Krieg nach dem Zerfall der UdSSR

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