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Europa

Wohin gehst Du Europa?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 15.12.2023

Timothy Garton Ash reflektiert im Guardian seine diesjährige Fahrt durch 20 Länder Europas. Ein besonderes Jahr, in dem die neue Realität endgültig deutlich wird, die riesige Herausforderung für die Europäische Union (die Ash einmal als »antiimperiales Imperium« charakterisiert hat) schlagartig ins Rampenlicht tritt. 

In weiten Teilen unseres Kontinents führen Autobahnen oder Hochgeschwindigkeitszüge über Grenzen, die man kaum bemerkt. Aber bewegen wir uns nur ein paar Stunden nach Osten, erfährt Ash hautnah auf seinen Reisen, verbringt man die

Zeit in Bombenunterkünften und (spricht) mit schwer verwundeten Soldaten mit Geschichten aus den Schützengräben, die an den Ersten Weltkrieg erinnern. Ich halte die Air Alarm Ukraine-App auf meinem Handy aktiv, so dass mich ihre Warnungen vor Luftangriffen auf ukrainische Städte jeden Tag an dieses andere Europa erinnern.

Der Krieg steht also in Europas Osten und damit direkt vor der Haustür des Westens. So richtig ist das wohl noch nicht in unser Bewusstsein eingedrungen? 

Der Einmarsch Wladimir Putins in die Ukraine am 24. Februar 2022 beendete die Zeit nach dem Mauerfall, die mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 begann, und wir befinden uns nun in den Anfangsjahren einer neuen Zeit, deren Namen und Charakter wir noch nicht kennen. …. Intellektuell wissen die europäischen Staats- und Regierungschefs das. Es ist das Thema von tausend Reden von Politikern und Webinaren von Thinktanks. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die Einstellung zur Sicherheit in Ländern wie Deutschland und Dänemark erheblich verändert, ganz zu schweigen von Finnland und Schweden, die von ihrer langjährigen Neutralität in die Nato-Mitgliedschaft katapultiert wurden. Aber emotional und in der Gesellschaft insgesamt ist es viel weniger klar.

Die Bürger sind konfrontiert mit einem Haufen Problemen in ihren Ländern und zögern daher, sich den gewaltigen Herausforderungen rings herum wirklich zu stellen, 

vom Krieg im Osten bis zum Migrationsdruck im Süden, von der schmelzenden Eiskappe im Norden bis hin zur Aussicht auf eine zweite Präsidentschaft von Donald Trump im Westen. Und ihre Politiker zögern, es ihnen direkt zu sagen, aus Angst, nicht wiedergewählt zu werden.

Nun wollen die Staats- und Regierungschefs der EU Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und mit Moldau beginnen. 

Das eine Land ist im Krieg, das andere gehört zu den ärmsten Europas. Auch Bosnien-Herzegowina hofft auf ein schnelles Go aus Brüssel. Die Verhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien sollen beschleunigt werden. Und Serbien und Montenegro könnten bereits innerhalb der nächsten Jahre aufgenommen werden.

Damit könnte die EU, die schon mit 27 Ländern oft überfordert scheint, bald mehr als 30 Mitglieder zählen. Diese Aufnahme der Ukraine und der Westbalkanstaaten käme, so Matthias Krupa in der oben verlinkten ZEIT, einer Revolution gleich:

Eine Union, die sich von Lissabon bis Charkiw erstreckte, zu der Tirana, Skopje und Chişinău gehörten – sie wäre tatsächlich nicht wiederzuerkennen. Geografie und Gewicht würden sich nach Osten verschieben; das westliche, karolingische Europa wäre endgültig vergangen. Von 36 Ländern käme die Hälfte aus dem früheren Ostblock. In einer solchen Union gäbe es sehr viele kleine und nur noch wenige große Staaten. Armut und Reichtum würden noch weiter auseinanderklaffen. Selbst in Bulgarien, dem bislang ärmsten Mitgliedsland, liegt das Bruttosozialprodukt pro Kopf fast dreimal so hoch wie in der Ukraine. Die EU wäre ärmer, östlicher und diverser.

Damit korreliert, so Ash, eine Dualität im politischen Spektrum der europäischen Länder. Immer noch gibt es in der Mehrzahl der Staaten Regierungen zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts. Wenn auch oft mit komplizierten Koalitionen. Die sich aber alle auf die eine oder andere Weise auf die liberale Demokratie und die Europäische Union verpflichtet haben. Zunehmend erzielen auf der anderen Seite populistische, nationalistische Parteien der harten Rechten bemerkenswerte Erfolge. Das reicht von Giorgia Meloni als italienischer Premierministerin im vergangenen Jahr (die m.E. allerdings erstaunlich gemäßigt agiert) bis hin zu besorgniserregenden Wahlergebnissen für Deutschlands "AfD" oder auch dem jüngsten Wahlsieg von Wilders in den Niederlanden. Von dem aggressiven Verhalten Viktor Orbán ganz zu schweigen. Die berechtigte Frage von Ash:

Kann eine demokratische, auf Recht basierende politische Gemeinschaft aus 27 sehr unterschiedlichen Ländern ohne einen einzigen Hegemon tatsächlich zusammenhalten und funktionieren? 

Die Frage, wie die EU so reformiert werden kann, dass sie z.B. nicht von rein egoistischen Akteuren wie Orbán blockiert werden kann, wird im Allgemeinen oft erst im Zusammenhang mit einer möglichen Erweiterung zu einer Union mit mehr als 35 Mitgliedstaaten gestellt. Aber klar ist für Ash (und ich befürchte, man wird ihm zustimmen müssen), das Dilemma ist bereits da. 

Die Fragmentierung der europäischen Parteipolitik bedeutet nicht nur, dass man mit 27 verschiedenen nationalen Interessen zu kämpfen hat, sondern auch mit der zusätzlichen Komplexität mehrerer Koalitionsregierungen. Um es klar zu sagen: Eine nicht-hegemoniale Union auf der Basis von Zustimmung hat es in dieser Art und Größenordnung in der europäischen Geschichte noch nie gegeben, und sie hat auch nirgendwo sonst in der heutigen Welt eine Entsprechung.

Es gilt also, praktikable Lösungen zu finden. Hier fand ich einen Artikel in der NZZ bemerkenswert. Unter der Überschrift "Brüssel darf sich von Viktor Orbán nicht länger erpressen lassen" polemisiert Andreas Ernst gegen das Einknicken der Kommission gegenüber Orbáns Blockade gegenüber der Ukrainehilfe. Die Hoffnung, für 10 Milliarden Euro oder noch mehr seine Zustimmung zu erkaufen, hält er für falsch. Erstens gefährdet Brüssel damit seine Glaubwürdigkeit und die Steuerbarkeit der Union. Sie stärkt gleichzeitig seine Position in Ungarn. Und drittens wird es sicher Nachahmer geben. Sein Vorschlag:

Die Finanzhilfe kann auch jenseits des Budgets an Ungarn vorbei unter den Mitgliedstaaten organisiert werden. Gleiches gilt für die Waffenhilfe, zu der Budapest nichts beiträgt – den EU-Fonds aber dennoch blockiert.

Man muss es nur organisieren wollen und das strategisch rechtzeitig. Ähnlich mit der Einladung zu den Beitrittsgesprächen. Dort ist das Einstimmigkeitsprinzip zwar letztendlich sakrosankt. Doch auch hier gäbe es Wege, die Erpressung zu parieren.

Die EU kann den Ukrainern offiziell mitteilen, was alle wissen: 26 Staaten wünschen, dass Kiew den Integrationsprozess antritt. Nur Ungarn will das nicht. Weil es bis zum Beitritt aber ohnehin ein weiter Weg ist, ist das derzeitige ungarische «Nein» keine Katastrophe. Und schon gar kein Grund für die Ukraine, Reformen aufzuschieben.

Damit könnte die Union signalisieren, dass sie in ihrer jetzigen Gestalt die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit zumindest noch nicht ganz erreicht hat. Wäre wohl auch nachhaltiger, als für die Entsperrung von 10 Mrd. Euro zu hoffen, dass der "Querulant" zufällig kurz den Saal verlässt. Um dann weiter um die nächsten Milliarden zu pokern.

Wohin gehst Du Europa?

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Kommentare 2
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor einem Jahr

    Noch eine Meinung zur jüngsten Entwicklung:

    "Natürlich ist es ehrenhaft, dass die EU-Staats- und Regierungschefs der Ukraine mit ihrer Entscheidung über die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen Mut machen wollen – auf der anderen Seite wecken sie damit aber auch Erwartungen. Werden sie enttäuscht, so könnte dies irgendwann aber auch zu Frust und ernsthaften internen Problemen im Land führen.

    Eines aber erscheint in diesem Beitritts-Poker völlig unverständlich: Warum kämpft Selenskyj nicht mit der gleichen Unnachgiebigkeit, der gleichen Leidenschaft und dem gleichen politischen Druck für mehr Waffenlieferungen an sein Land, wie er sich für einen Beitritt einsetzt? Viel wichtiger als ein vages Beitrittsversprechen wären jetzt doch für die Ukraine ausreichend Waffenlieferungen.

    Warum lässt Selenskyj beispielsweise den deutschen Kanzler Olaf Scholz mit seinem phrasenhaften Gemurmel, dass Berlin alles tun werde, damit die Ukraine ihre territoriale Integrität wiederherstellen kann, einfach so durchkommen? Warum nutzt der ukrainische Präsident nicht stärker die internationale Bühne, um die dramatische Lage an der Front schonungslos darzulegen, anstatt alles zu beschönigen?

    Die Aussichten für Kiew sind jedenfalls düster. Wie der Ukraine-Berater eines wichtigen westlichen Regierungschefs kürzlich in einem vertraulichen Gespräch erklärte, rechnet die internationale Gemeinschaft im Jahr 2024 nicht mit wesentlichen Veränderungen der militärischen Lage in diesem Krieg.

    Wie soll Kiew das durchhalten, während Moskau auf Zeit spielen kann? Die Streitkräfte der Ukraine stehen nach fast zwei Jahren Krieg überall unter Druck: Sie haben in den vergangenen Wochen nicht nur im Süden bei Robotyne bereits zurückerobertes Gebiet wieder verloren, sondern sie sind auch an zahlreichen Frontabschnitten unter massiven Beschuss geraten und müssen sich für die kommenden Monate in die Defensive retten. Eine neue ukrainische Offensive ist derzeit nicht vorstellbar.

    Es fehlen Minenräumgeräte, Störsender (sog. Jammer) gegen russische und iranische Drohnen, Kampfflugzeuge, Flugabwehr und weitreichende Luft-Boden-Lenkflugwaffen wie deutsche Taurus-Marschflugkörper.

    Die Lieferung solcher Waffen wäre eine wahrhaft „historische Entscheidung“– aber nicht die Chimäre eines Beitritts, der aus heutiger Sicht schlimmstenfalls niemals stattfinden wird. …..

    Und noch eines sollten die politischen Eliten der EU bei allem Selbstlob über die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen, ihren historischen Beschwörungen und geopolitischen Kalkülen nicht vergessen: Nach einer Umfrage des renommierten Forschungsinstituts European Council on Foreign Relations (ECFR) glauben 45 Prozent der befragten Personen in sechs EU-Ländern, dass ein Beitritt der Ukraine zur EU „negative Auswirkungen“ auf die Sicherheit der Union hätte, nur 25 Prozent erwarten dagegen „positive Auswirkungen“."

    https://www.welt.de/de...

  2. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor einem Jahr · bearbeitet vor einem Jahr

    Kleine Aktualisierung. Ist das nun Realpolitik oder ein Witz. Oder beides?

    "Trotz ungarischen Widerstands konnten die Staats- und Regierungschefs am Donnerstag den Start von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine beschließen. Diese Einigung machte Orbán möglich, indem er für die Abstimmung kurz aus dem Saal ging.

    Der ungarische Regierungschef betonte indes, dass er seine Meinung nicht geändert habe. Am Freitag wies er darauf hin, dass Ungarn noch häufig die Gelegenheit haben werde, den Beitrittsprozess der Ukraine aufzuhalten. Darauf hätten ihn die anderen Staats- und Regierungschefs selbst hingewiesen.

    Ihr entscheidendes Argument sei gewesen, dass er „nichts verlieren“ werde, indem er auf sein Veto verzichte, denn das letzte Wort über eine Mitgliedschaft der Ukraine hätten die 27 nationalen Parlamente, einschließlich des ungarischen. „Ich habe deutlich gemacht, dass wir keinen Moment zögern werden, wenn die finanziellen und wirtschaftlichen Folgen dieser schlechten Entscheidung von den Ungarn getragen werden. Diejenigen, die diese Entscheidung getroffen haben, sollten diejenigen sein, die dafür bezahlen“, sagte er. „Wenn nötig, werden wir auf die Bremse treten.“

    https://www.welt.de/po...

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