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Europa

Migration als Initiationsritus

Jürgen Klute
Theologe, Publizist und Politiker
Zum Kurator'innen-Profil
Jürgen KluteMittwoch, 02.12.2020

Migration wird in Europa mit Verfolgung, Krieg, wirtschaftlicher Not oder seit Neuerem auch mit Klimakrise assoziiert. Um diese Aspekte dreht sich die Debatte um Fluchtursachen und deren Bekämpfung.

Auf diesen Aspekten baut auch das neue von der EU-Kommission vorgeschlagene Migrations- und Asylpaket auf.

Der Innsbrucker Politikwissenschaftler und Migrationsforscher Prof. Belachew Gebrewold sieht den Ansatz der Kommission kritisch. In einem Interview mit Alicia Prager im Wiener Standard erläutert Gebrewold seine Kritik.

Zum einen hält er der EU-Kommission vor, dass ihr neuer Ansatz im Vergleich zu alten Ansätzen nichts Neues enthält. Der EU, so Gebrewold, gehe es nicht um Zusammenarbeit mit Afrika, sondern nur um das Migrationsthema. Deshalb sähe man Afrika in Europa mehr als Teil des Problems und nicht als Teil der Problemlösung.

Der spannendste Teil des Interviews sind jedoch die Erläuterungen von Gebrewold zu den Ursachen der Migration. Der größere Teil der Migration aus Afrika nach Europa komme nicht aus den Armuts- und Konfliktregionen des Kontinents, sondern aus den sich entwickelnden Staaten. Den Grund für die Migration sieht er in der Kolonialzeit:

„Während der Kolonialzeit wurde den Afrikanern die Menschlichkeit negiert. Heute ist ein neues Selbstbewusstsein entstanden, viele haben einen besseren Zugang zu Ressourcen. Damit wurde die Migration nach Europa ein Angleichungsprozess, eine Identitätssuche, wie sie bereits Frantz Fanon, ein Denker aus Martinique, beschreibt. Für manche junge Männer ist Migration ein Initiationsritus zur männlichen Identität. Das ist der Kern meiner gegenwärtigen Migrationsforschung.“

Stimmt diese Analyse, dann müsste sich die EU-Migrationspolitik gänzlich neu orientieren. Das dürfte nicht einfach sein – allein schon, weil eine solche Neuorientierung eine viel selbstkritischere Aufarbeitung der Kolonialgeschichte europäischer Länder erfordert, als bisher, sondern auch, weil die Kolonisierung Afrikas vor allem durch westeuropäische Staaten erfolgte, nicht aber durch osteuropäische oder nordeuropäische Staaten. Eine Neuorientierung der EU-Migrationspolitik erfordert also auch eine innereuropäische Verständigung über die unterschiedlichen Konfliktgeschichten und die daraus resultierenden unterschiedlichen historischen Verantwortlichkeiten der EU-Mitgliedsstaaten als Voraussetzung einer zukünftigen gemeinsamen und konsequent an den Menschenrechten ausgerichteten Migrationspolitik.

Belachew Gebrewold gibt mit diesem Interview einen wichtigen Impuls zum Umdenken in der EU-Migrationspolitik.

Migration als Initiationsritus

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Kommentare 5
  1. Gabriel Koraus
    Gabriel Koraus · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

    Guter Beitrag zu einem, wie in den vorherigen Kommentaren bereits deutlich gemacht wurde, äußerst komplexen Problem. Allein, dass im genannten Zusammenhang stets von "Afrika" die Rede ist, als sei dies ein kohärent konstituierter Ort, ist eine unzulässige Verallgemeinerung. Die Unterschiede zwischen Algerien und Simbabwe sind in Teilen größer, als zwischen Italien und Argentinien.
    Und dass die mittlerweile als pauschale Problemlösung instrumentalisierte Formel der "Bekämpfung der Fluchtursachen" deutlich relativiert wird, um tragfähigen Lösungsansätzen Raum zu geben, ist höchst notwendig. Wobei 'Lösung' stets ein aktives Handeln der europäischen Staaten voraussetzt, womit in diesem Falle eben auch immer die latente Annahme der Unzurechnungsfähigkeit und Unmündigkeit "der Afrikaner" einhergeht.

  2. Dominik Lenné
    Dominik Lenné · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

    Es ist gut die Migrationsfrage differenziert zu diskutieren!
    Ich finde Gbrewolds Thesen erfrischend, wenn ich auch manches anders empfinde. Zum Beispiel die Abschottungstendenz. Ihm zufolge spielt sie im Zuschreibungsfeld "Zivilisiertheit" und "Minderwertigkeit" und hat auch mit der Erhöhung des Selbstbildes durch die Abgrenzung zu tun. Dies sind wahrscheinlich Aspekte, die eine Rolle spielen, ich glaube aber dass es eine angeborene Reaktion im menschlichen Verhaltensrepertoire gibt, massenhafter Zuwanderung reserviert gegenüberzustehen, weil dies in den letzten 500.000 Jahren fast immer einen Konflikt um Ressourcen bedeutete. Man kann und muss mit dieser Reserviertheit arbeiten - sie sich bewusst machen, sie in Beziehung zur Realität setzen, dass die Zuwanderung auch Seiten kultureller und ganz ökonomischer Bereicherung mit sich bringt, aber sie nicht anzunehmen bringt einen in Erklärungsnöte. Ich gebe zu, dass dies ein wenig Evolutions-Küchenpsychologie ist. Interessant hier ein Nachdenken von Dieter E. Zimmer von 1989: https://www.zeit.de/19...
    Sehr treffend finde ich, dass Gbrewold Investitionen mit dem vorrangigen Ziel, Migration zu vermindern, für verfehlt hält.
    Dass die Afrikanischen Eliten oft genug das Schlechte beider Welten vereinen ist, glaube ich, so offensichtlich, dass es kaum extra erwähnt zu werden braucht. Vielleicht bessert sich das langsam mit dem Aufkommen besser ausgebildeter, idealistischer junger Staatsangestellter.
    Ich möchte aber noch einen weiteren Aspekt einbringen, den auch Gbrewold angesprochen hat, indem er darauf verwies, dass die meisten Migranten nicht aus den Krisenzentren des Kontinents kommen: den sogenannten "migration hump", d.h. die Beobachtungstatsache, dass Migration aus einem Land mit zunehmendem Reichtum, mit zunehmender Entwicklung zunimmt und erst dann wieder abnimmt, wenn die Entwicklung einen gewissen Schwellenwert überschritten hat. Dies bedeutet, dass wir uns in EU noch auf lange Zeit auf erhebliche Migration einstellen müssen, ganz ohne Klimaerwärmung.
    Siehe etwa
    https://www.die-gdi.de...
    Hier werden zusätzlich zum reinen BSP pro Kopf noch andere Aspekte genannt:
    - Bevölkerungswachstum und Jugendarbeitslosigkeit, "youth bulge"
    - De-Agrarisierung - erzeugt Arbeitslosigkeit
    - Grad der Ungleichheit - erzeugt eine Spannung, die Migration motivieren könnte
    - Existenz einer bereits arrivierten Diaspora - erleichtert das Übersetzen ins andere Land
    - Kapitalknappheit - Migration bedeutet oft einen enormen Kapitalfluss ins Land hinein

  3. Natascha+Christoph H.
    Natascha+Christoph H. · vor 4 Jahren

    Zitat"Damit wurde die Migration nach Europa ein Angleichungsprozess, eine Identitätssuche, wie sie bereits Frantz Fanon, ein Denker aus Martinique, beschreibt. Für manche junge Männer ist Migration ein Initiationsritus zur männlichen Identität."

    Das widerspricht aber arg dem was wir von seiten der Politik hören. Sind es also doch keine Flüchtlinge die zu uns kommen? Und ist dass was in kulturorbanen Gegenden wie Neukölln oder anderswo stattfindet die neue Bevölkerungsidentität von der hier geschrieben und scheints von vielen gewollt wird?

    Das kann man so betrachten:
    Sie verhalten sich wie Kolonialherren, nur noch schlimmer“

    Kann mehr Geld, wie es die EU Afrika auf dem gemeinsamen Gipfel auf Malta zugesagt hat, die Probleme vor Ort und damit die Flüchtlingskrise lösen? Nur bedingt, meint François Koutouan vom Verein Deutsch-Afrikanische Kooperation. Im DLF sagte er, sein Heimatkontinent habe ein tiefer gehendes Problem.

    Eine bessere Finanzierung von Schulen, Ausbildung und privaten Unternehmern – würden die von der EU versprochenen Milliarden so eingesetzt, könnte die Arbeitslosigkeit in Afrikas Staaten sinken und somit eine Hauptursache dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen, beseitigt werden, so Koutouan. Doch dies sei nur ein Teil der Lösung.

    „Man kann nicht eine Wunde mit einem Pflaster heilen, sondern muss den Eiter rausholen und Medikamente geben, damit die Wunde endgültig beseitigt wird“, sagte Koutouan im Deutschlandfunk. Afrika habe grundsätzlich ein Problem mit seinen politischen Führern. Seit der Unabhängigkeit hätten die afrikanischen Staaten die Politik der Kolonialmächte übernommen, „aber nicht mit deren Seriosität verfolgt“. Sie verhielten sich wie Kolonialherren, „nur noch schlimmer“.

    Am zweiten Tag des EU-Afrika-Gipfels zur Flüchtlingskrise in der maltesischen Hauptstadt Valletta wollen beide Seiten einen milliardenschweren Treuhandfonds zur Unterstützung afrikanischer Länder aus der Taufe heben. Er ist Teil eines umfassenden Aktionsplans, der die Bekämpfung von Fluchtursachen wie Armut und Arbeitslosigkeit vorsieht und auch auf einen wirksameren Kampf gegen Schlepper in Afrika und die Rücknahme von in Europa abgelehnten Asylbewerbern zielt.
    Das Interview in voller Länge:

    Doris Simon: Heute der zweite Tag des EU-Afrika-Gipfels auf Malta. Die europäischen Länder wollen, dass die Afrikaner dafür sorgen, dass ihre Jugend zuhause bleibt und dass die afrikanischen Staaten abgelehnte Asylbewerber aus ihren Ländern zurücknehmen. Das haben sie den Afrikanern in Malta auch recht unverblümt gesagt. Aber die Afrikaner wissen ihrerseits genau, dass die EU jetzt ihre Unterstützung mehr denn je braucht, und sie stellen ihre Forderungen: mehr Geld, mehr legale Einwanderung nach Europa, mehr Jobs. – Bei mir im Studio ist jetzt François Koutouan, ........................
    https://www.deutschlan...

    Afrikanische Politiker sehen es aber auch so:
    "Die Afrikaner, die ich in Italien sehe sind der Abschaum und Müll Afrikas"

    Man weiß in Afrika sehr genau, welche Bevölkerungsgruppen sich nach Europa aufmachen. Lassen wir mal einen Diplomaten aus dem Kongo zu Wort kommen:

    http://www.krone.at/Na...

    P.s. ich mache mir die Meinungen nicht zu eigen, sondern stelle sie nur zur Diskussion

    1. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor 4 Jahren

      Danke für deine Ergänzungen. Es kommt ja auch nicht nur darauf an, ob geäußerte Meinungen und Einschätzungen teilt. Wichtig ist erst einmal, sie zur Kenntnis zu nehmen und sie einzuschätzen. Die Situation in Afrika ist sicher vielschichtig. Ein Freund von mir aus französisch Guinea sagte mir mal, dass es in seinem Land zwar die Möglichkeit gibt zu studieren, aber danach gibt es nur wenige Berufsmöglichkeiten. Die meisten in der staatlichen Verwaltung. Die Wirtschaft ist so wenig entwickelt, dass sie keine attraktiven akademischen Laufbahnen anbieten kann. Das treibt junge Akademikerinnen dann dazu, sich in anderen Länder nach adäquaten Jobs umzuschauen, selbst wenn sie viel lieber in ihrem Herkunftsland bleiben würden. Guinea ist der weltweit größte Lieferant von Bauxit, hat aber keine darauf aufbauende Wirtschaft. Hier liegen also Potentiale. Die Erschließung dieser Potentiale hätte dann aber Auswirkungen auf die Bauxitverarbeitung (also Aluminium) in den bisherigen (teils europäischen) Standorten. Es ginge also ganz praktisch um Standortverlagerungen mit all den daran hängenden Problemen und Konflikten. Will damit sagen: Lösungen sind leichter zu Papier gebracht als in die Praxis umgesetzt.

      Belachew Gebrewold ist in dieser Debatte auch nur eine Stimme. Aber ich finde, sein Verweis auf die psychologischen Aspekte sehr interessant, weil sie in der politischen Debatte nach meiner Wahrnehmung ausgeblendet werden. Migration bzw. ihre sind demnach also nicht alleine auf wirtschaftlicher und sicherheitstechnischer Ebene zu betrachten und politisch zu bearbeiten. Auch finde ich den Verweis von Belachew Gebrewold auf Frantz Fanon richtig. Fanons Arbeiten werden viel zu wenig berücksichtigt in der Migrationsdebatte. Deshalb finde ich das Interview mit Belachew Gebrewold eine wichtige Ergänzung und Erweiterung des Diskussionsraums zum Thema Migration.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      Afrika hat in unterschiedlichen Ausprägungen sehr vielschichtige Probleme:
      Demografie
      Familien-, Clan- und Stammesstrukturen
      Religiöse Vorstellungen
      Archaische Landwirtschaften,
      Fehlende Infrastrukturen und Industrien
      Den inneren Rassismus und die nachhallende eigene Sklaverei nicht vergessen.

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