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Kurator'in für: Europa Volk und Wirtschaft
Jahrgang 1953
Studium der Elektrotechnik und Elektronik
Forschung / Lehre auf dem Gebiet der Wissenschafts- und Innovationstheorie
Entwicklung von Forschungsprogrammen im IKT-Sektor für verschiedene Bundesministerien und Begleitung der Programme und Projekte - darunter Smart Energy, Elektromobilität, netzbasiertes Lernen, Industrie 4.0
Nun im Un-Ruhestand
Russlands Einmarsch in die Ukraine war eine Ernüchterung. Geht sie auch weit genug? Man könnte, wenn man sich umsieht, meinen, es blühen die Großmachtsträume – Großserbien, Großungarn und eben auch der nach dem untergegangenen Osmanischen Reich. Es wird oft argumentiert, das seien innenpolitisch geschürte Konflikte zum Machterhalt. Da ist sicher etwas dran. Aber die Völker scheinen durchaus empfänglich für diese uns als Albträume erscheinenden Ideen. Rasim Marz, Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei, analysiert dies in der NZZ am Beispiel der Türkei. Er meint dazu,
der Traum von der Auferstehung des Osmanischen Reiches ist nicht einfach eine Obsession von Recep Tayyip Erdogan, sondern tief in der türkischen Volksseele verankert.
Hinter dem Traum steht sicher auch eine beeindruckende Geschichte. Seit etwa 1300 versuchten die Sultane, unter dem Banner des Islams, ein neues Weltreich auf den Ruinen des römischen Imperiums aufzubauen. Durchaus erfolgreich:
Das Osmanische Reich erstreckte sich auf dem Höhepunkt seiner Macht im 17. Jahrhundert von den Toren Wiens bis tief nach Jemen und von Algier bis nach Bagdad.
Wir sollten nie vergessen, die Osmanen haben die Geschichte Europas maßgeblich mitgestaltet – so oder so. Mächtige europäische Staaten,
wie das Oströmische Reich mit seiner Hauptstadt Konstantinopel, die Königreiche Bulgarien, Serbien oder Ungarn wurden von der modern ausgerüsteten und agierenden Janitscharen-Eliteeinheit des Sultans hinweggefegt. Eine Weltmacht wie das Habsburgerreich wurde bis ins 17. Jahrhundert zu Tributzahlungen gezwungen. 1514 schlugen die Osmanen erst das safawidische Persien vernichtend, bevor sie ein paar Jahre später Moskau von den Krimtataren niederbrennen liessen und schliesslich mit der Einverleibung des ägyptischen Mamelucken-Reiches den ganzen Nahen Osten beherrschten.
Der Erfolg der Osmanen – so Rasim Marz – verdankt sich einer effizienten Verwaltung, die sich mehr auf die Kontrolle von Gruppierungen und Stammesverbänden konzentrierte als auf ein staatliches Gewaltmonopol. Der vormoderne osmanische Staat war demnach kein klassisches «Reich» oder «Imperium». Die eroberten Ländereien des Sultans bildeten ein Konglomerat aus ethnisch und religiös heterogenen Völkern und tribalen Gesellschaften, die weitestgehend autonom verwaltet wurden. Klingt irgendwie fast harmonisch und wurde – so dieses Narrativ – erst im 19. Jahrhundert durch andauernde Kämpfe zwischen der Zentralgewalt und separatistischen Nationalbewegungen gestört. Der mit dem aufkommenden Nationalismus beginnende Niedergang wurde dann durch
eine aggressive russische Expansionspolitik und den verheerenden Einfluss der europäischen Grossmächte auf die Aussen-, Finanz- und Wirtschaftspolitik beschleunigt … , bis der Staat schliesslich im Zuge des Ersten Weltkrieges kollabierte.
Die in dem Osmanischen Reich verpasste technische und industrielle Revolution scheint der Autor allerdings in seinem Niedergangsszenario ebenso zu übersehen wie die politische und kulturelle Moderne im Rest Europas, die in Istanbul nicht bzw. zu spät ankam. Wie auch immer, es stimmt wahrscheinlich:
Der Untergang des Osmanischen Reiches wird von Staatspräsident Erdogan daher als ein welthistorischer Irrtum angesehen, der zwar ideologisch nicht an die Sowjetnostalgie eines Wladimir Putin heranreicht, den es aber mit aussenpolitischen Manövern und teilweise militärischen Interventionen in der Region zu korrigieren gilt.
Wie die Wahlen immer wieder gezeigt haben, ist es ja nicht nur Staatspräsident Erdogan, der so denkt. Offensichtlich möchten viele Türken an diese alte Größe anknüpfen und sähen daher ihr Land gern als eine der kommenden Mächte des 21. Jahrhunderts.
Die Türkei ist NATO-Mitglied und als Südostflanke des Bündnisses ein elementarer Bestandteil der westlichen Sicherheitsarchitektur. Unterhält jedoch gleichzeitig besondere Beziehungen zu Moskau. Auch um gegenüber Washington und Brüssel eigene Forderungen durchsetzen zu können.
Ähnlich agiert Ankara auch in Zentralasien, wo es sich mit den ressourcenreichen Ländern der Organisation der Turkstaaten (OTS) zwischen Russland und China positioniert, und auch ein Beitritt der Türkei in die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) würde Ankara näher an Peking führen.
Von der teilweise aggressiven Politik Ankaras gegenüber Griechenland, Syrien und den Kurden redet der Artikel erst gar nicht. Was folgt daraus? Was tun? Könnte das in einer sich verschärfenden Krise auch in eine offene Feindschaft gegenüber der EU umschlagen? In einer Verschiebung aktueller Grenzen, wie es Putin versucht? Wir dachten ja eine Zeit lang, wir wären nur von Freunden umgeben – ein offensichtlicher Irrtum. Der Wiederkehr der Geschichte begegnet man jedenfalls nicht allein mit Moralpolitik. Es ist auch die Wiederkehr der Interessenpolitik.
Quelle: Rasim Marz www.nzz.ch
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Gute Moderation, guter Artikel.
Dazu kommt noch der unruhige Kaukasus, der, sollte Russland in der Ukraine verlieren, noch fragiler wird.
Hoffentlich beginnt der Sultan in Ankara, zum 100. Jahrestag der Türkei und vor den Neuwahlen, keinen neuen Krieg oder weitet einen alten aus.