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Europa

Erdoğans Abkehr vom Westen

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum Kurator'innen-Profil
Thomas WahlFreitag, 05.01.2024

Reichskanzler Bismarck soll Ende des 19. Jahrhunderts einmal gesagt haben

Die Liebe der Türken und Deutschen zueinander ist so alt, dass sie niemals zerbrechen wird.

Damals war natürlich das Osmanische Reich gemeint, aus dem als Rest dann die Türkei hervorging. 

Aus der Liebe wurde um die Zeit des Ersten Weltkrieges dann eine "Waffenbruderschaft". Im Laufe der Zeit wich dieser Begriff in den Reden von Politikern beider Länder der "Freundschaft". Daraus wurde ab etwa den Nullerjahren eine "Partnerschaft". Heute ist fast nur noch von "Beziehungen" die Rede.

Und Erdogan versucht offensichtlich Glanz und Größe des Osmanischen Imperiums wieder erstehen zu lassen?

Can Dündar, ein türkischer Journalist im deutschen Exil, von Erdogan persönlich angeklagt, zeichnet in seinem empfohlenen ZEIT- Artikel den Weg nach, den die Türkei unter Erdogan gegangen ist. Den besorgniserregenden Weg in Richtung Osten hin zur Autokratie. 

Die Kundgebung zur Unterstützung der Palästinenser kann ich ja noch verstehen. Aber die Kalifatsfahnen mit Rufen nach der Scharia dagegen sind schon ein ganz anderes Alarmsignal. Hat Europa zu lange dieser Ablösung vom Westen zugeschaut?

Die konservative Wende ist (und war) überall spürbar, in Lehrbüchern, auf Fußballplätzen, in Fernsehserien, bei Verboten von Konzerten. Das Austauschprogramm für Studierende Erasmus steht an der Schwelle zum Aus, weil die meisten der damit ins Ausland reisenden Studenten nicht in die Türkei heimkehren. Seit 2013 bereits beteiligt sich die Türkei nicht mehr am Eurovision Song Contest. Auch aus der Istanbul-Konvention, dem auf seine Initiative hin 2011 unterzeichneten Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, stieg Erdoğan wieder aus. Und 2020 hatte er gefordert, soziale Netzwerke wie YouTube, Twitter und Netflix abzuschaffen. Wikipedia war in der Türkei drei Jahre lang gesperrt, die Deutsche Welle ist es seit 2022.

Und das sind nur die "weicheren" Aktionen. Noch schwerer wiegt es wohl, wenn die Türkei die Sanktionen gegen Rußland wegen des Ukrainekrieges nicht mittragen, das russische Raketenabwehrsystem S-400 kaufen und und lange den Beitritt Schwedens zur Nato verhindert. Dazu passt das Bestreben nach Autarkie im Rüstungsbereich:

Für die Militärplaner der Türkei zahlt sich die Autarkie-Strategie in der Rüstungsbranche aus. Sie ist eine Antwort auf zahlreiche Sanktionen des Westens in den vergangenen Jahren gegen das Land. Deutschland lieferte keine weiteren Leopard-Panzer für den Kampf gegen die Kurden. Die USA stoppten die Türkei als Bauteile-Lieferant für den US-Kampfjet F-35, weil Erdogan bei Russlands Präsident Wladimir Putin Luftabwehrraketen erwarb. Das Kalkül des Westens, die Türkei damit in der Rüstung auszubremsen, geht aber offensichtlich nicht auf. Als jüngst die Analysten des schwedischen Friedensforschungsinstituts Sipri die Liste der weltweiten Top-100-Rüstungskonzerne veröffentlichte, gehörten die türkischen Unternehmen zu den großen Gewinnern – im Gegensatz zu US-Firmen, die Umsatz einbüßten. Der Umsatz der vier türkischen Unternehmen in dem Ranking stieg 2022 um gewaltige 22 Prozent auf 5,5 Milliarden Dollar. Allein beim Drohnenhersteller Baykar stieg der Umsatz um 94 Prozent, und das Unternehmen landete mit Platz 76 erstmals in der Liste.

Zumindest in der Rüstung scheint die türkische Wirtschaft zu funktionieren. Auch in die Richtung einer Abwendung vom Westen zeigt Erdogans "Drohung" der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) beizutreten, 

die vor allem der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit deren Mitgliedstaaten dienen soll und bei der das Nato-Mitglied Türkei bislang nur den Status eines Dialogpartners hat. Dieses Bündnis wurde ursprünglich als "Shanghai Five" von Russland, China, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan gegründet und später um Indien, Pakistan, Iran und Usbekistan erweitert.

An der Begründung mag etwas dran sein, aber sie signalisiert eben klar die Abwendung von Europa und der NATO. 

„Die Europäische Union hält uns seit 52 Jahren mit Hinhaltungstaktiken am Rand. Wir können uns anderweitig umschauen.„ Derlei Erklärungen mögen als Bluff gegenüber Europa betrachtet werden. Ein Blick auf die Veränderungen in Diplomatie, Politik, Militär und Kultur der Türkei zeigt aber, dass es keine bloße Erpressung ist. In den 100 Jahren ihres Bestehens wurde die Türkei als Brücke zwischen Osten und Westen verstanden und tendierte stets zum Westen, in den vergangenen zehn Jahren aber wurde sie immer mehr Teil der autoritären Welt, in der freie Wahlen, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Pressefreiheit, unabhängige Justiz, Laizismus und Gleichberechtigung der Geschlechter missachtet werden.

Inzwischen hat Erdogan auch sein Machtsystem vollständig durchstrukturiert. Ihn von der Macht zu verdrängen wird offensichtlich immer schwieriger. Auch das ein Grund, warum westlich denkende, gut ausgebildete Türken, in immer größerer Anzahl nach Europa auswandern. Was dem Regime nicht unangenehm zu sein scheint. Dazu Bülent Mumay in der FAZ:
Als Beleg dafür lassen Sie mich anführen, was ein AKP-Minister einmal in dieser Angelegenheit sagte: „Bei steigender Bildung verringern sich die Stimmen für die AKP.“ Aus ebendiesem Grund ist Erdoğan bestrebt, die Religion zum Mörtel der Gesellschaft zu machen und seine Macht zu zementieren, indem er die Gesellschaft zunehmend islamisiert. Er öffnet religiösen Orden und Gemeinschaften die Tore zum Staat, um sein politisches Leben zu verlängern. In Bildungs- und Gesundheitswesen, in Handel und Politik, in allen Bereichen lässt er Initiativen zu, die eine Bedrohung für das säkulare Leben darstellen. 
Gleichzeitig verändert sich die soziale Struktur des Landes auch durch die mehr als fünf Millionen Flüchtlinge, vor allem aus Syrien und Afghanistan. Sollte es Erdoğan gelingen, bei den Ende März stattfindenden Kommunalwahlen
das vor fünf Jahren verlorene Istanbul für seine Partei zurückzuerobern, würde er nicht bloß der desolaten Opposition einen weiteren Schlag versetzen. Womöglich würde ein Wahlsieg bei den Kommunalwahlen einem komplett autokratischen Regime und dem Modell "Türkei des Ostens" den Weg ebnen. 
Was tun?

Der Artikel von Can Dündar ist auf türkisch, den Link zur deutschen Fassung findet sich am Textanfang.
Erdoğans Abkehr vom Westen

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Kommentare 2
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 12 Monaten

    Als Ergänzung und Erweiterung des empfohlenen Autors Can Dündar sei sein aktuelles Buch DIE RISSIGE BRÜCKE ÜBER DEN BOSPORUS empfohlen https://www.perlentauc... ,das es auch bei yourbook gibt: https://yourbook.shop/...

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 12 Monaten · bearbeitet vor 12 Monaten

      Danke für den Hinweis. Die Türkei wird m.E. immer mehr zum Bestandteil der autokratischen Internationale gegen die demokratische Welt:

      "Um die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei ist es seit längerem nicht gut bestellt. In politisch aufgeladenen Fällen tritt die Judikative oftmals eher als Erfüllungsgehilfin der Regierung von Recep Tayyip Erdogan auf denn als eigenständige Staatsgewalt. Unzählige Prozesse gegen missliebige Journalisten und Oppositionspolitiker zeugen davon."

      https://www.nzz.ch/int...

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