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Europa

Der zornige Osten, ein Lehrstück über Integrationsprobleme?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlMittwoch, 21.08.2024

Wer kennt sie nicht, die Hoffnungen zu Beginn des Einigungsprozesses 1989 und der Folgejahre. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört - der Satz von Willi Brandt klang klar und einfach. Und doch übersah er, dass sich in den wenigen Jahrzehnten der Teilung offensichtlich zwei unterschiedliche Gesellschaften herausgebildet haben. Wie Steffen Mau in seinem Buch "Ungleich vereint - Warum der Osten anders bleibt" treffend schreibt:

Und das betraf eben nicht nur die wirtschaftliche Verfassung sowie das politische System, sondern ebenso die sozialen Strukturen, kulturellen Mentalitäten und die politischen Bewusstseinsformen.

Müssen wir nicht grundsätzlich unsere naiven Vorstellungen von Integration und Zusammenwachsen überprüfen. Der MDR hat sich auf eine verdienstvolle Reise begeben - durch die drei Bundesländer Mitteldeutschlands. Das auch im Zentrum Mitteleuropas liegt - dem anderen großen Integrationsprojekt. 

Die Dokumentation läuft am 21. August im MDR und zeigt einen ungeschönten Blick auf die Stimmung der Menschen in Ostdeutschland. Ohne erhobenen Zeigefinger, ohne direkte und belehrende Kommentare. 

Es brodelt im Land, nicht nur, aber vor allem im Osten. Die Reportage „Wut. Eine Reise durch den zornigen Osten“ ist ein Film von Grimme-Preisträger Matthias Schmidt (u.a. „Das Wunder von Leipzig“/ ARD, „Angela Merkel: Die Unerwartete“/ ARD, „Putin und die Deutschen“/ ZDF und „Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR“/ 3Sat). Er lässt Menschen aus der Mitte der Gesellschaft zu Wort kommen und fragt, was sie bewegt oder gar wütend macht. Er hat zugehört: am Gartenzaun, im Friseursalon, auf Montags-Demos – in der Stadt und auf dem Land. Ob Migration, Krieg, Gendern oder Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, die Themen sind vielgestaltig.

Begleitend versucht der oben zitierte Soziologe Steffen Mau Wut und Erregung vieler ostdeutscher Bürger in den historischen Kontext, in kollektive Erzählungen und in ihre subjektiven DDR- und Nachwende-Erfahrungen einzubringen. 

In seinem Buch warnt er:

Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg. Zudem sollte man küchenpsychologische Erklärungen vermeiden, die sich an populären Mythen zu bestimmten Gruppeneigenschaften abarbeiten oder Alltagshypothesen mit der Realität verwechseln.

Die Wirklichkeit ist widersprüchlich, oft paradox und komplex. Genau wie die Widerspiegelung in den Köpfen der Menschen. Die ursprüngliche Theorie der Modernisierung und Angleichung des Ostens hat sich nicht wirklich bewahrheitet. Auch die These vom rechtsradikalen Osten der Abgehängten begreift nicht die Vielschichtigkeit des Prozesses und der Menschen dort.

Einerseits, so Mau in seinem Buch:

Blickt man nur auf einige wenige statistische Kennzahlen, hat sich der Osten in den vergangenen Jahren in dieser Hinsicht gar nicht so schlecht entwickelt. Seit 2017 ist das demografische Ausbluten gestoppt, es ziehen etwas mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt. Die große Kluft in der Arbeitslosenquote hat sich verringert, die subjektive Lebenszufriedenheit hat sich angenähert, in den vergangenen zwei Jahren fiel das Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland sogar höher aus als in Gesamtdeutschland. Nachrichten zu umfangreichen privaten wie öffentlichen Investitionen und zur Ansiedlung technologieintensiver Industrien – von der Batterieherstellung über die Chipproduktion bis hin zu E-Mobilität – machen Hoffnung, dass sich mittelfristig auch die Produktivitätslücke schließen könnte. Der Umstand, dass sich prestigeträchtige globale Unternehmen nun Ostdeutschland als Standort aussuchen, lässt viele bereits von einem Wirtschaftsboom träumen. Industrieparks, Fertigungshallen und Breitbandausbau wären dann die neuen blühenden Landschaften.

Andererseits aber so Mau:

Doch dies ist nur eine Seite der Medaille, die fortbestehende, zum Teil sehr hartnäckige Unterschiede verdeckt. Wer sich eine Vielzahl unterschiedlichster Indikatoren anschaut – Ausstattung der Haushalte, Erwerbsquoten, Kirchenbindung, Vereinsdichte, Anteil von Menschen mit Migrationsbiografie, Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Exportorientierung der Wirtschaft, Vertrauen in Institutionen, Patentanmeldungen, Hauptsitze großer Firmen, Produktivität, Erbschaftssteueraufkommen, Zahl der Tennisplätze, Anteil junger Menschen, Moscheendichte, die Lebenserwartung von Männern, die durchschnittliche Größe der landwirtschaftlichen Betriebe, Parteimitgliedschaft, Kaufkraft, Wert des Immobilieneigentums, Größe des Niedriglohnsektors –, der kommt immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Eine Phantomgrenze durchzieht das geeinte Land. Färbt man die 294 Landkreise und 106 kreisfreien Städte in Deutschland anhand dieser Indikatoren ein, zeichnen sich die Umrisse der alten Bundesrepublik und Ostdeutschlands klar voneinander ab.

Wenn ich sehe, wie schwierig (und teuer) es ist, Unterschiede in der Sozialstruktur, der Demografie und der Kultur anzunähern, die in relativ kurzen Zeiträumen innerhalb eines Volkes mit einer Sprache, entstanden sind, wie viel Zeit und Geduld benötigen wir dann für eine Europäische Union, die aus 27 Völkern besteht? Was können wir da realistisch erwarten?


Der zornige Osten, ein Lehrstück über Integrationsprobleme?

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Kommentare 6
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 25 Tagen

    Um auf die letzte Frage zu antworten:
    EU Integration ist glaube ich tatsächlich etwas (!) weniger belastet, da bei "fremden Ländern" die meisten nicht über Unterschiede überrascht oder verärgert sind - und tatsächlich zwischen zb Deutschland und Frankreich kaum noch "kränkende" Unterschiede sind. Das mag zwischen West- und Osteuropa anders sein, auch Südeuropa hat eine etwas abweichende Sicht - noch. Aber die Zeit bringst. Wir müssen nur durchhalten und unser bestes tun. Schließlich sind zb auch die deutschen Länder (= die vor 1872) sehr unterschiedlich gewesen. Und damit, dass Bayern oder Schleswig-Holstein sich ab und an mal...fremd fühlen, kommen wir auch zurecht...

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 24 Tagen

      Was genau müssen wir durchhalten? Das durchwursteln? Was ist "unser" bestes? Wollen "wir" eine EU wie heute das Deutschland - mit einer Unionsregierung und einer Sprache? Kann das funktionieren?

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 28 Tagen

    Ergänzend sei dieser Beitrag von Detlef Pollack empfohlen:
    https://www.faz.net/ak...
    Darin heißt es:

    In dieser Studie kommen wir zu dem Ergebnis, dass ein Dreiersyndrom aus Abwehr des Fremden, wahrgenommener Nichtanerkennung und Misstrauen gegenüber Institutionen entscheidend für die Ausbildung rechtspopulistischer Neigungen ist.

    Menschen, die in Deutschland und anderen europäischen Ländern rechtspopulistische Parteien wählen, haben das Gefühl, die Politik greife auf ihre gewohnte Lebenswelt über. Sie mute ihnen zu, Zuwanderung und die damit verbundene wachsende kulturelle und ethnische Diversität willkommen zu heißen, und erwarte von ihnen, sie sollten Migranten mit ihren Steuerzahlungen finanziell unterstützen, neue Geschlechterverhältnisse und alter-
    native Lebensstile akzeptieren und ihren Stolz auf das eigene Land bezähmen.
    Zugleich sehen sie sich in einer inferioren Position und erleben sich als benachteiligt, als nicht anerkannt und nicht beachtet. Sowohl für das Gefühl der Überfremdung als auch für den Eindruck, marginalisiert zu sein, machen sie die Politik verantwortlich. Entsprechend gering ist ihr Vertrauen in die politischen Institutionen und die Regierung sowie ihre Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie. In Ostdeutschland sind immerhin etwa zwei Fünftel der Bevölkerung diesem Einstellungssyndrom zuzuordnen.

    ...

    Lässt sich aus dem ostdeutschen Fall etwas für den Rechtspopulismus in anderen Ländern lernen? Vielleicht. Zum Beispiel, dass es wichtiger ist, auf die Geschichte und auf die aus ihr resultierenden Kränkungserfahrungen zu schauen als auf sozialstrukturelle Bedingungen.

    Lässt sich anhand des ostdeutschen Falles erkennen, was getan werden muss, um rechtspopulistischen Einstellungskomplexen wirksam zu begegnen? Durchaus, denn dann sieht man, dass tatsächlich nur relativ wenig getan werden kann. Die Geschichte lässt sich nicht umkehren.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 28 Tagen

      Und das Gefühl, die Politik greife auf ihre gewohnte Lebenswelt über, ist ja nicht unbegründet. Da hilft es wenig, wenn die Politiker betonen, sie können nicht anders oder die Gesetzeslage sei nun mal so …..

    2. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor 25 Tagen

      @Thomas Wahl Politik greife über? Wo soll die denn sonst wirken? Ist der Vorwurf nicht oft, sie sei vom normalen Leben abgehoben? Was denn nun?

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 24 Tagen

      @Cornelia Gliem Politik (gerade in Föderationen) sollte überlegen, wo und wie, wie stark sie auf Lebenswelten (in den Regionen) einwirkt. Subsidiarität eben.

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