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Europa

Demokratieexport – eine realpolitische Zwickmühle?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSamstag, 10.09.2022

Wir wünschen uns eine Welt voller demokratischer Staaten. Und doch ist die Zahl der Demokratien und damit auch die Anzahl der Menschen, die in Demokratien leben (wie im 20 Jh. schon einmal), wieder gesunken. Im Jahr 2012 erreichte die Zahl der Demokratien in der Welt ein Allzeithoch. Es gab 97 Wahldemokratien und 42 liberale Demokratien. 2021 lagen die entsprechenden Zahlen dann nur noch bei 89 bzw. 34.

Josef Joffe nähert sich dem Problem der Schaffung von Demokratie aus einer bestimmten Richtung. Der Frage, warum der Export von Demokratie so regelmäßig scheitert. Er meint:

Demokratie-Export hat nur zweimal geklappt, in Deutschland und in Japan. Der Preis war beispiellose Verwüstung, und amerikanische Truppen sind immer noch dort. Woanders hat die «Umerziehung» nie funktioniert, die Unterworfenen wurden nicht in Demokraten verwandelt. 

Ich weiß nicht, ob diese Zählung wirklich komplett ist, ich würde auch Südkorea und Staaten in Ex-Jugoslawien dazu zählen. Aber grundsätzlich stimmt es wohl – der Export von Demokratie scheitert sehr oft – vielleicht ähnlich dem Export von Sozialismus? Nur ein Beispiel:

Der zwanzigjährige Krieg in Afghanistan hat 200 000 Menschenleben und zwei Billionen Dollar gekostet. Insgesamt kämpfte eine halbe Million Amerikaner am Hindukusch. Seit September 2021 gehört das geschundene Land abermals den totalitären Taliban. Afghanistan ist nur ein Beispiel für die verfliegenden Träume von Nation-Building und Demokratie-Export.

Und Joffe geht noch weiter, auch bei der humanitären Pflicht der Rettung vor dem Völkermord scheitert der Westen regelmäßig. Europa hat jahrelang dem serbischen Vernichtungskrieg gegen Bosnien zugesehen. Das obwohl alle UNO-Mitglieder dem "Responsibility to Protect"-Konzept zum Schutze des Menschen vor schweren Menschenrechtsverletzungen und Brüchen des humanitären Völkerrechts zugestimmt haben. Die Idee dahinter:

Nie wieder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und doch sterben heute ukrainische Zivilisten im russischen Bombenhagel. Der Westen liefert nur Waffen und Milliarden, weil ein Kampfeinsatz den Krieg mit Russland heraufbeschwört. Realpolitik überwältigt die Schutzverantwortung.

Das Problem für intervenierende demokratische Staaten – das Eingreifen produziert Opfer (meist in großer Zahl) und gewaltige Zerstörungen. Mit dem moralischen Imperativ allein kommt man nicht voran. Was den Rückhalt im Wahlvolk meist zeitlich und vom Aufwand her begrenzt. Also gilt es abzuwägen:

Der Massstab ist ein rechnerischer. Welche Werte rechtfertigen wie viele Opfer? Welche Mittel können die Helfer aufbringen? Wie gut sind die Erfolgsaussichten? Wie lange können die Retter durchhalten? Schliesslich: Müssen sie wiederkommen?

Interventionen wie in Serbien oder zunächst auch in Libyen waren für den Westen relativ problemlos. Der Einsatz der Luftwaffe erforderte wenig eigene Opfer, nach wenigen Monaten waren die Kämpfe beendet. Auch das Eskalationsrisiko durch andere rivalisierende Mächte war niedrig. 

Trotzdem werfen diese scheinbar simplen Fälle eine moralische Frage auf: Wie inhuman dürfen die Humanitären sein?

Der Westen kann und will eigentlich keine Städte total zerstören und dabei massenhaft Zivilisten umbringen. Seine Zivilgesellschaften würden auch reagieren. Aber ganz ohne "Kollateralschäden" geht es nicht:

Als Barack Obama 2012 über den Einsatz in Syrien grübelte, dachte er deshalb an «massgeschneiderte» und «begrenzte» Schläge, um nur die Schurken zu treffen. Das nationale Interesse sagte abermals «Nein», weil die Weiterungen im Hexenkessel Nahost nicht kalkulierbar waren. Asad durfte unter Putins Schirm weitermorden.

Das Dilemma ist, um dies zu verhindern, hätte man Schutzzonen bilden und Flugverbote garantieren müssen. Das geht nur mit eigenen Bodentruppen vor Ort über längere Zeit.

Das war zu viel des Guten, weil Russen, Türken und Iraner mitmischten, denen die Moral egal ist.

Damit besteht die Gefahr eines langandauernden, großen Krieges in ganzen Weltregionen. Dazu kommt: in solchen Bürger- oder Stammeskriegen beginnt mit einem Sieg oft die nächste Runde – man denke an die Sunniten und Schiiten im Irak oder an die Taliban in Afghanistan. 

Die Erklärung wurzelt im neuen Wesen des Krieges. Die Feldzüge der Staaten werden von Binnenkriegen verdrängt. Anders als in den Weltkriegen, die in der totalen Kapitulation endeten, zeugt der moderne Bürgerkrieg keine finale Entscheidung. Der Sieg ist bloss vorläufig. Die Gewalt im eigenen Haus flammt wieder auf. Stamm gegen Stamm, Ethnie gegen Ethnie, Revolutionäre gegen Regimetreue, Gläubige gegen Ketzer. Solche Kriege sind «kleinkariert», aber von grenzenloser Wut und Angst getrieben, welche die nächste Schlacht einläuten.

Wie will man diese extrem blutigen Kreisläufe als fremde Macht von außen unterbrechen? Selbst mit modernsten Waffen ist man oft im Nachteil. Und selbst wenn man einer Seite beim Siegen hilft, muss man danach die andere vor der Wut des Siegers schützen. Und trotzdem einen neuen Ausbruch von Kämpfen verhindern. Immer wieder eine "mission impossible". Wohl deshalb gibt der Westen immer wieder auf? Weil sie gegen Extremisten, denen menschliche Opfer und auch ihr eigenes Leben gleichgültig sind, keine Mittel finden, die moralisch verträglich sind. Und weil daher

Demokratien auf Dauer keine Kriege durchhalten, wo es nicht um die eigene Haut geht. Wo Interessen weich und weit weg sind. Wo die Eindringlinge trotz ihren Wunderwaffen im strategischen Nachteil sind. Denn ihre Gegner sind dort zu Hause und wissen, dass die Fremden irgendwann verschwinden – wie immer nach 1945. Die einheimischen Kämpfer müssen nur auf ihre Chance warten. Ho Chi Minh, der die Franzosen 1954 aus Indochina vertrieb, formulierte schon 1946 die Warnung: «Ihr könnt zehn von uns töten und wir nur einen von euch. Trotzdem werdet ihr verlieren, und ich werde siegen.»

Dazu kommt sicher die Arroganz der Macht unserer wirtschaftlich und (scheinbar) auch militärisch überlegenen Nationen. Oft verbunden mit der Unkenntnis der Verhältnisse, der Kulturen in den Krisenregionen. Ein wahrhaftes komplexes moralisches Dilemma – immer wieder. Den Gemetzeln zusehen oder eingreifen? Aber wie, wie lange und mit welchen Opfern?

Demokratieexport – eine realpolitische Zwickmühle?

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Kommentare 9
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 2 Jahren · bearbeitet vor 2 Jahren

    interessant ist vielleicht der Gedanke dass das Importieren eines Systems in ein Land grundsätzlich schwierig ist:
    auch Nicht-Demokratie-Systeme sind da nicht so erfolgreich.

    zb hat die UdSSR in Afghanistan auch keinen Erfolg gehabt.

  2. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 2 Jahren

    "langandauernden, großen Krieges in ganzen Weltregionen" - das Problem ist, das es DAS trotzdem gibt auch wenn wir uns raushalten.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 2 Jahren

      Oder gerade wenn wir uns raushalten?

    2. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor 2 Jahren

      @Thomas Wahl ja. Das auch.

  3. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 2 Jahren

    Ein interessanter Beitrag zum Thema. Was macht Stärke aus?

    https://noahpinion.sub...

    "Dieser Unterschied in den Zielen hilft uns meiner Meinung nach zu verstehen, was wir instinktiv meinen, wenn wir "liberal" und "illiberal" sagen. Ein großer Teil der Unterscheidung bezieht sich auf Unterschiede in den politischen und sozialen Systemen (wie ich in Kürze besprechen werde). Aber vieles davon dreht sich einfach um Eroberer gegen Verteidiger. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen der Vision einer Welt, in der "die Starken tun, was sie können, und die Schwachen leiden, was sie müssen", und der Vision einer Welt, in der jedes Land frei ist, sein eigenes Schicksal zu bestimmen.

    In gewissem Maße bedeutet "liberal" in Bezug auf die Geopolitik einfach, sich mit den Verteidigern zu identifizieren. Es bedeutet, die Idee aufrechtzuerhalten, die wir jetzt "westfälische Souveränität" nennen (obwohl ihre Verbindung zum eigentlichen Westfälischen Frieden schwach ist). Das ist ein internationales Regime fester Grenzen und der Achtung der Interessen kleiner Nationen. Bisher hat sich die Norm mit fester Grenze für den Niedergang des zwischenstaatlichen Konflikts seit dem Zweiten Weltkrieg als äußerst nützlich erwiesen - eine Norm, gegen die Russland mit seiner Invasion in die Ukraine eklatant verstoßen hat und damit auf eine dunklere, gewalttätigere Welt hindeutiert.

    Ein liberales Regime ist auch ein Regime, das die Menschenrechte respektiert. Die USA haben sich sehr bemüht, die Idee der universellen Menschenrechte in das Nachkriegssystem einzuschränken (obwohl der Erfolg dieser Bemühungen zur Debatte steht). Tatsächlich ist dies die weitaus häufigere Definition von "liberal" - ein politisches System, das auf Menschenrechten und Demokratie basiert. Es ist dieser Aspekt des Liberalismus, der zu Toleranz gegenüber rassischen Minderheiten, sexuellen Minderheiten, nicht-traditionellen Geschlechterrollen und all den anderen führt, die Autoritäre als dekadent betrachten. Es ist auch der Grund, warum "liberal" manchmal mit freien Märkten identifiziert wird, obwohl in der Praxis die meisten "liberalen" Länder das sind, was wir Sozialdemokratien nennen würden.

    Die Vorstellungen von Liberalismus-als-westfalischer - Souveränität und Liberalismus-als-Menschenrechte-und-Demokratie geraten offensichtlich ziemlich oft in Konflikt. Wenn ein Land seine Menschen unterdrückt oder abschlachtet, versuchen Sie dann einzugreifen oder nicht? Aber es gibt auch einen konzeptionellen Faden, der die beiden Vorstellungen vom Liberalismus vereint - den Respekt vor Autonomie auch angesichts von Machtunterschieden. Es gibt eine natürliche Analogie zwischen einem Respekt vor kleinen Nationen und einem Respekt vor dem Einzelnen."

    1. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor 2 Jahren

      Zielkonflikte. Richtig. Allerdings sind es meist nicht mal die zwischen verschiedenen Aspekten von Demokratie bzw. Liberalität - was übrigens das Völkerrecht juristisch durchaus schon bearbeitet (!), nein. oft sind es verschiedene Ziele zwischen Demokratie oder Wirtschaft etc. Und auch wenn ich durchaus bezweifle ob man Demokratie von außen etablieren kann, denke ich, dass Afghanistan kein gutes Beispiel dafür ist: schließlich hat der Westen dort fast alles falsch
      gemacht unter dem Gesichtspunkt Nationbuilding und Demokratieverbreitung.
      Man kann nicht Großkonzernen und Privatarmeen das Feld überlassen und korrupte Warlords an der Spitze halten - und sich dann wundern, dass Demokratie dort nicht geklappt hat. ..

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 2 Jahren

      @Cornelia Gliem Wirtschaft ist doch auch ein Aspekt von Demokratie? Sicher hat der Westen vieles, vielleicht sogar fast alles falsch gemacht. Das aber Großkonzerne oder Privatarmeen der Grund waren, dass sehe ich nicht. Und auch die Afghanen waren eben mehrheitlich nicht in der Lage, nicht Willens, zur Demokratie. Das ist sicher der Hauptgrund warum Demokratieexport meist scheitert.

    3. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor 2 Jahren

      @Thomas Wahl Wirtschaft ist ein Teilgebiet für das bzw. in dem Demokratie gelten sollte.
      und gut funktionierende Wirtschaft hilft der Demokratie, ja.

      Aber ob unsere kapitalistische, im Westen mehrheitlich eher neo-liberale Wirtschaft nun der Demokratie inhärent ist, wage ich zu bezweifeln.

      Ob Afghanen nicht willens oder gar nicht in der Lage sind zur Demokratie, halte ich für stark übertrieben.

      Aber ja, die Bevölkerung muss schon mehrheitlich "wollen" bzw. Erfahrungen (*) damit haben -

      außer (!) jemand übernimmt für wasweisich 5 - 10 Jahre das Staatssystem und installiert und kontrollieren und gewährleistet ein Demokratisches System...
      (und wirtschaftlicher Aufbau bzw. gute Sozialleistungen helfen sehr.)

      was natürlich Zwang und starke (staatliche) Gewalt beinhaltet
      (=vermutlich erkennt jeder die Situation in Deutschland nach 1945).

      * Erfahrungen:
      Deutschland hatte zumindest zwischen 1919 bis 1939 eine demokratische Republik, auch danach hatte das Dritte Reich zumindest formal (!) viele demokratische Rituale.

      und - um jetzt auch Erfahrungen nicht demokratischer Art anzuführen - Deutschland hatte fast zweihundert Jahren Übung in Bürokratie und ... relativ stabiler Staatlichkeit
      (=ja ja ich weiß, klingt falsch; heißt es doch immer Deutschland wäre erst so spät Nation geworden. Aber die Kleinstaaten waren halt schon Staaten.)

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 2 Jahren · bearbeitet vor 2 Jahren

      @Cornelia Gliem Eigentlich funktioniert Demokratie nur in Staaten mit gut funktionierenden Wirtschaften. Wenn es nichts, insbesondere keine Überschüsse zu verteilen gibt, dann ist Demokratie tot.

      Richtig ist sicher, dass die allgemeinen Regeln und konkreten Rahmen für die Wirtschaft demokratisch gefunden werden müssen. Ob diese Wirtschaften dann in sich "demokratisch" sein müssen wage ich zu bezweifeln. Ich denke das würde gar nicht funktionieren. Was hieße das denn? Alle Entscheidungen mit allen so lange zu diskutieren, bis die Mehrheiten klar sind? Im einzelnen Unternehmen oder zwischen den Unternehmen? Wird dann über Preise und Löhne abgestimmt? Wer stimmt ab? Gibt es dann noch Eigentum an Produktionsmitteln. Oder gehört dann allen alles?

      Demokratie ist kein Selbstzweck der positive Ergebnisse garantiert. Sie hängt ab von Bedingungen, die sie nicht selbst (demokratisch) erzeugen kann. Eines davon ist eine florierende Wirtschaft. Das andere ist Kultur, Bildung, Tradition - all diese historisch, evolutionär gewachsenen "weichen" Faktoren. Die man aber auch kaum autokratisch (künstlich?) schaffen kann. Wie wir immer wieder in den Versuchen sehen, Demokratie oder Sozialismus zu exportieren.

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