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Kurator'in für: Fundstücke Zeit und Geschichte
Seit der ersten Stunde als Kurator bei Forum dabei: Dirk Liesemer arbeitet als Journalist für Magazine wie mare und G/Geschichte. Er hat Politik, Philosophie und Öffentliches Recht studiert, die Henri-Nannen-Journalistenschule besucht, immer mal wieder in Redaktionen gearbeitet und ehrenamtlich eine Reihe von Recherchereisen mitorganisiert und begleitet. Bisher fünf Bücher, darunter "Café Größenwahn" (2023), ein Ausflug zu den großen Kaffeehausliteraten des Fin de Siècle. Foto: Andreas Unger
Ich hadere ein wenig mit dieser Empfehlung: Einerseits finde ich die Frage, warum die vielen aktuellen Aufstände in aller Welt so selten einen Wandel zum Bessern bewirkt haben, spannend, aber es gibt doch etliche Punkte, denen ich widerspreche. Vielleicht ist das jedoch gut für eine Diskussion.
Es geht in diesem gut 20minütigen Radiofeature um das Buch "If we burn" des US-Journalisten Vincent Bevens. Dieses untersucht Gemeinsamkeiten der Aufstände in Brasilien, Tunesien, Ägypten, den USA, Chile und Südkorea, von denen Bevens einige aus der Nähe miterlebt hat. Was also verbindet sie? Und warum sind sie letztlich gescheitert?
Folgende zwei Punkte des Features will ich nicht unkommentiert stehen lassen: Erstens die Behauptung, dass es eine Entwicklung von sozialen Revolutionen (1789 in Frankreich und 1918 in Russland) hin zu bürgerschaftlichen urbanen Revolutionen gegeben habe. Klingt als These gut, ist aber merkwürdig, schließlich fand die Revolution von 1789 nicht irgendwo auf dem Land, sondern mitten in Paris statt und wird allgemein als bürgerliche Revolution charakterisiert (der dritte Stand, also die Bauern, profitierte nicht davon). Und was die russische Revolution angeht: Auch sie fand mitten in der damaligen Hauptstadt Sankt Petersburg statt – war also urban. Zwar ging es dort 1917 auch um sozialen Fragen (Hunger), aber das war 2011 in Tunesien kaum anders, wo sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der die Revolution in Gang setzte, bekanntermaßen fernab des (urbanen) Tunis selbst verbrannte.
Und zweitens halte ich die Behauptung, dass vor allem mangelnde Repräsentation zu den aktuellen Massenprotesten führt, allenfalls für die halbe Wahrheit. Entscheidender dürfte sein, dass autoritäre Staaten, wo die vehementesten Aufstände stattfinden, über keine internen Mechanismen verfügen, um Konflikte friedlich beizulegen. Fraglich ist auch, ob man Aufstand, Protest und Revolte einfach so in einen Topf werfen sollte.
Gleichwohl ist der Beitrag von Uli Hufen und Kathrin Kühn hörenswert, weil er einen darüber nachdenken lässt, warum so viele Aufstände trotz allem anfänglichen Optimismus letztlich ihre Ziele nicht erreichen. Sicher nicht falsch ist die Beobachtung, dass viele Proteste von Gruppen gekapert werden, die ganz andere Ziele haben als die ursprünglichen Demonstranten. Mal sehen, wie sich die Vergleichende Revolutionsforschung weiterentwickeln wird.
Quelle: Kühn, Kathrin; Hufen, Uli Bild: AFP/Marco Longari www.deutschlandfunk.de
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...am meisten bewegt hat mich der Gedanke, dass "das Digitale" dem Erfolg im Wege steht. Das sich zwar präzise planen und auch erregen lässt, aber keine echten Effekte mehr entstehen können, weil die Menschen sich nicht kennen und keine Strukturen und Beziehungen mehr entstehen. Eine tief dystopische Erkenntnis?
Bei Deinem Pick erinnerte ich mich an einen alten von mir. Und ich bin fündig geworden:
https://forum.eu/zeitg...
Der Text von Guillaume Paoli stammt aus dem Jahr 2019, also noch vor Corona, und ist frisch geblieben. Der Philosoph erklärt auch, warum die zahlreichen Aufstände, die sich nicht zu einer Revolution entwickelten, scheiterten. Er endet so :
"Bislang ist es nirgendwo gelungen, aus den sporadischen Konfrontationen eine dauerhafte Opposition aufzubauen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand.
Zum einen haben tradierte linke Strategien ihr Unvermögen genügend unter Beweis gestellt, eine praktikable und zugleich wünschenswerte Alternative anzubieten.
Zum anderen, und das ist die wesentliche Hürde, erfolgt jeder Einzelprotest zwangsläufig im Rahmen der Nation, wobei er sich doch gegen eine globale Ordnung richtet.
Gesetzt den Fall, es würde ein Volksaufstand in einem bestimmten Land siegen, bliebe nur die Exit-Option übrig, mit unabsehbaren und nicht unbedingt rosigen Folgen für die Bevölkerung. Voraussichtlich wird sich also das Muster des gerade zu Ende gehenden Jahres noch einige Zeit fortsetzen: autoritärer Liberalismus, durch gelegentliche Ausbrüche des Zorns zu temporären Zugeständnissen gebracht. Bis der Status quo nicht mehr haltbar ist."
Er den alten Pick liest, unbedingt den letzten Link klicken. Das Lied ist auch frisch geblieben und hat Kraft.