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Klima und Wandel

CO₂-Emissionspreis sank - aber keine Panik!

Dominik LennéSonntag, 17.03.2024

Als Pro-Klimaschutz-Mensch in Europa ist man zur Zeit zwischen Hammer und Amboss: auf der einen Seite die Beschleunigung der Erwärmung mit Erscheinungen wie der Erhöhung der Netto-Energieaufnahme der Erde und einer unwirklich hohen Temperatur der Meeresoberfläche, auf der anderen Seite Angstgeschrei wegen der "Deindustrialisierung Deutschlands" oder sogar Europas.

Demgegenüber scheint die EU-Klimapolitik - und hier insbesondere das EU Emissionssenkungssystem für Industrie- und Stromemissionen (EU Emissions Trading System, EU ETS 1) - wie ein Fels in der Brandung: Es gibt für jedes Jahr eine Emissions-Obergrenze vor, die sinkt jährlich ab und landet 2040 bei Null. Das ist vereinbart, festgelegt, allseits akzeptiert, zum Laufen gebracht, funktioniert.

Der gepiqte, konzise und sachkundige Artikel geht über die jüngste Entwicklung dieses Systems.

Der Zertifikatepreis, d.h. der Preis pro Tonne emittiertes CO₂, war lange sehr niedrig gewesen, weil man das System mit viel zu vielen Emissionsrechten ausgestattet hatte. Mit den unter Anderen von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unter dem Motto "Fit for 55" in Gang gesetzten Reformen wurde das Zertifikatangebot verknappt und die jährliche Absenkungsrate erhöht, was zu einem erstaunlichen Anstieg des Preises auf 80 - 100 € führte - erstaunlich deshalb, weil im Markt ungefähr ein Jahresumsatz an Zertifikaten bereits auf Lager war ¹ ; man kaufte also aus Vorsicht dazu.

Seit einem halben Jahr ist der Zertifikatepreis auf dem Weg nach unten und dabei mittlerweile bei 60 € angelangt, wofür es eine Reihe von zusammenwirkenden Gründen gibt:

  • Covid-19 und die Putin-bedingte Energiepreissteigerung hat eine Verminderung der Industrieproduktion - und der damit verbundenen Nachfrage nach Zertifikaten verursacht ².
  • Durch den milden Winter wurde weniger Strom nachgefragt.
  • Der Ausbau der regenerativen ersetzt einen  immer größeren Teil der fossilen Stromerzeugung.
  • Die Europäische Kommission brauchte für ihr REPowerEU-Programm (das auch eine Folge des Krieges ist, denn die EU will sich damit von russischem Gas unabhängiger machen) schnell 20 Mrd. € - und hat dafür Zertifikatausgabe vorgezogen. 

Der Artikel vertritt den Standpunkt, dass die Industrie, indem sie weniger Zertifikate kauft, kurzsichtig handelt:

A structurally lower carbon price has two main effects. First, it provides industrial emitters with a sense of comfort that investments in abatement technologies can wait. This will haunt the market in the long-term with an even higher reduction effort required towards 2030 and beyond. A classic ‘kicking the can down the road’ effect. 

Denn es sei klar, dass es in nicht allzu langer Zeit mit dem Emissionspreis wieder erheblich aufwärts gehen werde. Die Emissionsobergrenze sinkt unablässig, 2026 sogar besonders stark wegen einer einmaligen Basisanpassung. Die jetzt wegen RepowerEU zusätzlich verkauften Zertifikate werden ab 2027 fehlen. 

Irgendwann werde der Markt (in seiner unendlichen Weisheit) das auch merken - es sei aber unklar, wann genau. Für 2030 werden 90 bis 190 (!) €/t vorhergesagt

Es gibt nur drei Varianten, in denen das nicht geschieht:

  • Die Umstellung auf erneuerbare Energie und Erhöhung der Effizienz verläuft auch bei niedrigen Emissionspreisen so schnell, dass die Emissionen konstant weit genug unter der Obergrenze liegen. Das ist nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich. 
  • Die europäische Produktion, besonders die emissionsintensive, sinkt. Wenn dieses durch Auswanderung von Produktion geschieht (Fachbegriff "Carbon Leakage"), ist das das beschrieene Deindustrialisierungszenario. Es kann durch eine Mischung aus Subventionen und Bepreisung von importierten Produkten gemildert werden.
  • Die übelste Variante ist, dass die Anti-Klimaschutz-Kräfte mit ihren zunehmend populistischen Parolen nach der Europawahl am 9. Juni die EU-Politik dominieren und das geplante Sinken der Emissionen verlangsamen.

Facit

Es ist - wie fast überall - komplex. Europa hat nur noch 16 Jahre für eine nahezu vollständige Entfossilisierung der gesamten Industrie. Das wird mit Sicherheit zu erheblichen Widersprüchen führen, auf die wir uns schon einmal geistig-moralisch einstellen sollten. Die Weiter-wie-bisher-Wohlstands-Fraktion wird alle Register ziehen, um die nötigen Umstellungen zu verzögern. Halbwahrheiten und populistische Anti-Klimaschutz-Framings werden mindestens so intensiv aufpoppen wie bisher. 

Für pro-Klimaschutz-Menschen ist es unverzichtbar, zur Europa-Wahl zu gehen und pro-Klimaschutz-Parteien zu wählen - und dafür zu argumentieren.

Anmerkung

¹ Die Sandbag-EU-ETS-Simulator-App zeigt die verschiedenen Bestandteile und Flüsse im ETS und ist auf den ersten Blick ziemlich verwirrend. Die Kurve für den Zertifikateüberschuss, d.h. die Zertifikate, die gekauft, aber noch nicht verwendet wurden, ist die gestrichelte Kurve. 

² Ein Effekt, den ich in einem frühen Blog Post über Bepreisungssysteme erwähnte (den ich hier bewerbe, denn er ist, glaube ich, eine gute Einführung in das Thema): Emissions-Obergrenzensysteme führen bei schlechter Konjuktur zu niedrigen Energiepreisen, wirken also antizyklisch. It's a feature, not a bug. 

Zum Weiterlesen

"Europe’s industrial decarbonisation at risk amid sharp drop in CO2 price" - Beitrag auf EURACTIV

"The recent drop in prices on the EU’s Emissions Trading System (EU ETS) threatens to slow industrial decarbonisation and to deprive state treasures of urgently needed funds for climate action." - Beitrag auf Carbon Market Watch, der die negativen Effekte auf Klimainvestitionen betont.

"Looking beyond the short-term turbulence: The promising long-term horizon of the EU ETS and carbon pricing" - Einschätzung des Finanzdienstleisters im Emissionshandel Homaio.

"EU carbon prices likely to remain under pressure" - Markterklärung der ING-Bank

CO₂-Emissionspreis sank - aber keine Panik!

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Kommentare 2
  1. Ferdinand H
    Ferdinand H · vor 7 Monaten

    Kann eine Privatperson oder ein Verein eigentlich diese Emissionsrechte kaufen und quasi wegschmeißen? Hätte das nicht direkt einen Einfluss auf die Emissionen?

    1. Dominik Lenné
      Dominik Lenné · vor 7 Monaten

      Ja es gibt Initiativen, die dieses ermöglichen, eine davon heißt compensators.org. Zertifikate, die dort gekauft werden, stehen anderen Marktteilnehmern nicht für Emissionen zur Verfügung.

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